Alle Zeit - Roman
Henriette, ohne immer gleich traurig zu werden.
Juli lernt ein bisschen kochen. Sie wird sich später allein durchs Leben schlagen können. Ewig kann sie nicht bei den beiden
bleiben. Oder doch? Sie weiß es nicht. Vernarrt sind sie in Svenja, als wäre es ihr Enkelkind. An freien Tagen packen sie
das Kind in den Wagen und schieben es, wie stolze Großeltern, durch den Park. Morgen wollen sie das zu dritt tun. Juli hat
es vorgeschlagen. Dasssie in den Park gehen und dort im Café Kuchen essen. Wie eine perfekte Familie.
Heute hat Juli etwas anderes vor. Sie packt Svenja in den Wagen und sicherheitshalber eine Windel und ein Fläschchen Tee in
die Tasche. Heute wird sie sich erkundigen, ob Jakob noch in der gleichen Straße wohnt, ob es ihn gibt, was er macht. Danach
kann sie entscheiden, was zu tun ist. Vielleicht ist Svenja ohne Jakob besser dran. Das wird sich herausstellen.
Juli schiebt den Kinderwagen durch die Straßen, die sie inzwischen ganz gut kennt. Sie bleibt vor einem kleinen Laden stehen,
der Trödel verkauft, nimmt Svenja aus dem Wagen und geht in das dunkle Verlies. Davon kann der Ladenbesitzer nicht leben,
denkt Juli und schaut sich den Mann an, der hinten in einer Ecke auf einem wackligen Holzstuhl sitzt und liest.
Er schaut nicht auf und nicht zu Juli, die unentschlossen anfängt, in Kisten und Kartons zu kramen. Sie zieht ein Fotoalbum
aus bordeauxfarbenem Kunstleder hervor. Die Seiten sind aus gelblichem Karton, getrennt durch Transparentpapier, durch das
man die Fotos betrachten kann. Auf denen ist ein Kind zu sehen, ein Junge, als Baby zuerst und dann Seite für Seite größer
werdend, mit unterschiedlichen Frisuren und Gesichtern. Immer freundlich in den ersten Jahren, dann pubertierend mürrisch,
später Distanz haltend zu allen Personen, die ihm an die Seite gestellt werden, dann verwegen aufmüpfig mit langen Haaren
und großkragigen bunten Hemden, engen Jeans und hin und wieder einer Zigarette in der Hand. Zweimal mit einer jungen Frau,
die dann aber wieder aus dem Album verschwindet. Einmal vor einem grünen Auto stehend, einer Ente, oder einem kleinen Fiat,
da kennt Juli sich nicht aus. Auf jeder Seite stehen die Jahreszahl und ein Satz zur Erklärung. Aneinandergereiht ergeben
die Sätze einen Text, derdie sinnlos liebevolle Plapperei einer Mutter oder eines Vaters nachstellt. Nun ist er da, unser Sonnenschein. Die ersten
Schritte ins Leben. Oma und Opa haben das richtige Geschenk gebracht. So ein schöner Weihnachtsbaum. Mutti backt den besten
Kuchen. Ein Sommer voller Überraschungen. Da freut sich aber jemand. Ein Naturtalent auf dem Fahrrad. Na, wo ist der Ball?
Mit Onkel und Tante zum Sonntagsausflug in Dresden. Zurück aus dem Ferienlager, hungrig und zerstochen. Papa und Sohn beim
Fußball, wer wird gewinnen? Endlich geschafft. Der Sohn hat Abitur. Soldatendasein, ein schweres Brot. Das lustige Studentenleben
fängt an. Die große Liebe. Gemeinsamer Ausflug mit den alten Eltern. Grüße aus der Fremde. Die erste große Urlaubsreise. Umzug
mit Folgen, vielleicht kommen bald Enkelkinder ins Haus?
Danach nur noch ein Foto. Von einem Grabstein unter strahlend blauem Himmel. Da weiß man, wie der Junge heißt und dass er
nicht alt geworden ist. Keine Enkelkinder, kein weiterer Umzug. Der Grabstein ist groß und lässt noch Platz für zwei Inschriften.
Juli klappt das Album zu und fragt den Mann in der Ladenecke, was es koste. Der schaut nur kurz auf und sagt: fünf, und vergräbt
sich wieder in sein Buch. Juli kramt fünf Euro aus der Tasche, legt sie neben die Kasse und steckt das Album ein. Wahrscheinlich
wird sie nie wieder reinschauen. Vielleicht aber doch.
Juli denkt an Elisas Kisten, die immer noch im Keller stehen. Morgen wird sie anfangen, sich die Sachen anzuschauen. Da sind
wohl auch Fotoalben dabei. Auf denen wird sie zu sehen sein, ihr kurzes Leben in Abschnitten, die je eine Seite im Album füllen.
Bis zu Jakobs Haus ist es nicht mehr weit. Zweimal um die Ecke, denkt Juli. Das hat Elisa immer gesagt, wenn sie einen kurzen
Weg signalisieren wollte: Das liegt nur zweimal um die Ecke. Sonst hat sie sich mit Sprache immergroße Mühe gegeben und Juli verbessert, wenn ihr irgendein Fehler unterlief. Vor allem der faule Konjunktiv, wie sie es immer
nannte. Den mit würde. Wenn Juli sagte: Das würde ich nicht machen, verbesserte Elisa garantiert: Das machte ich nicht.
Und wenn sie hart drauf war, schob sie noch
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