Allein auf Wolke Sieben
hängt, tun ihr Übriges. Ohrenbetäubende Nirvana-Musik dringt aus dem Schlafzimmer, wo auf einer breiten Matratze, die ohne Gestell einfach auf den Boden gelegt wurde, regungslos und mit geschlossenen Augen ein Mann liegt. Seine
halblangen, weißblonden Haare hängen ihm in Strähnen über das Gesicht, und mit seinem hageren Körper hat er tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit mit Kurt Cobain, dessen Stimme gerade aus den mannshohen Boxen in den Zimmerecken dröhnt.
»My girl, my girl, don’t lie to me, tell me where did you sleep last night«. Ich trete zögernd einen Schritt weiter in den Raum hinein und sehe mich angesichts der wie tot daliegenden Person suchend um.
»Hallo?«, frage ich vorsichtig, falls die Seele doch schon irgendwo auf mich wartet, doch ich erhalte keine Antwort. Gerade als ich mich über Andreas beuge, bewegt er sich. Jedenfalls seine rechte Hand, die er jetzt zum Mund führt, um an dem Zigarettenstummel zu ziehen, der zwischen seinen Fingern klemmt. Dabei fällt die zentimeterlange Asche auf sein ehemals weißes T-Shirt, das nun unzählige Fett- und Tomatenflecken zieren. Er inhaliert tief, stößt dann den Rauch aus, mir mitten ins Gesicht. Schnell weiche ich zurück und sehe zu, wie er einen weiteren Zug nimmt. Der Filter der Zigarette glimmt auf, Andreas verzieht das Gesicht und öffnet die Augen. Sie sind hellblau und tieftraurig. Er lässt den angekokelten Stummel in den Aschenbecher neben sich fallen und starrt an die Decke. Ich folge seinem Blick und zucke erschreckt zusammen. Dort oben hängt die postergroße Fotografie einer jungen Frau, die aus schwarz umrandeten Augen lasziv zu uns heruntersieht. Die hellblond gefärbten Haare sind zu einer wilden Löwenmähne auftoupiert. Auch wenn ich dieses Styling etwas gewöhnungsbedürftig finde, würde ich darüber im Normalfall kein Wort verlieren. Kann ja jeder rumlaufen, wie er möchte. Aber muss sie mir unbedingt
mit weit gespreizten Beinen ihre Vagina präsentieren? Darum habe ich nicht gebeten. Ich wende den Blick ab und suche mir lieber ein freies Plätzchen auf dem fleckigen, grauen Teppichboden. Dort lasse ich mich nieder, während Andreas der Frau weiter zwischen die Schenkel starrt. Geduldig sitze ich da und warte. Höre ihm beim Atmen zu. Ein und aus. Ein und aus.
»Also, wann immer du so weit bist«, sage ich irgendwann, als mir ein kleines bisschen langweilig wird. Das ist natürlich nicht in Ordnung, gerade bei einem so sensiblen Thema wie Selbstmord sind Sprüche dieser Art völlig fehl am Platz. Das weiß ich auch ohne das »Regelwerk zur Abholung und Begleitung der Seelen von der Erde«. Aber zum Glück kann er mich ja sowieso noch nicht hören. Ich sehe mich im Zimmer um. Hier sieht es wirklich aus wie Kraut und Rüben. Hinter mir in der Ecke befindet sich ein riesiger Berg Schmutzwäsche. Misstrauisch beobachte ich den Haufen. Würde mich nicht wundern, wenn sich darin ein paar Ratten eingenistet hätten. Kurt Cobain ist mittlerweile verstummt und es ist still im Raum, bis auf das Surren der Fliegen um die Pizzakartons und das Atmen von Andreas. Dessen Frequenz übrigens mittlerweile merklich angestiegen ist. Ich gehe zu ihm hinüber. Noch immer liegt er auf dem Rücken, den Blick auf das Foto gerichtet. Seine rechte Hand jedoch hält diesmal keine Zigarette. Nein, sie hält seinen Penis, den er aus seiner speckigen Jeans befreit hat. Oh nein, bitte nicht! Womit habe ich das verdient? Mit fest zusammengekniffenen Augen und zugehaltenen Ohren warte ich darauf, dass er fertig wird. Hoffentlich fragt er mich später nicht, wie lange ich schon da war. Nach einer Weile, die mir vorkommt wie
eine Ewigkeit, öffne ich vorsichtig ein Auge – und sehe mitten in sein verzerrtes Gesicht, das sich gleich darauf zu entspannen beginnt. Also wirklich, Arbeitsbedingungen sind das hier. Gerade will ich mich darüber aufregen, dass er einfach so seine Hose wieder zumacht, ohne auch nur ein Taschentuch zu Hilfe zu nehmen, als ich ein Schluchzen höre. Auweia! Der Kurt-Cobain-Verschnitt weint. Dicke Tränen kullern aus seinen hellen Augen und es zerreißt mir beinahe das Herz. Auch wenn ich rein hygienetechnisch nicht mit ihm auf einer Wellenlänge bin, mir sein Wand- oder besser gesagt Deckenschmuck nicht zusagt und ich wirklich nicht scharf darauf war, ihm beim Onanieren zuzusehen, so ist er doch auch eine liebeskummergeplagte Seele, voller Schmerz und Tränen.
»Es ist schon gut«, sage ich sanft und setze mich zu ihm aufs
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