Allein auf Wolke Sieben
schneidet sie an einer Seite bis zur Mitte ein, so dass sie nur noch an einer Seite zusammengehalten werden. Dann rollt er die Scheiben so zusammen, dass eine Blütenform daraus entsteht, die er links und rechts auf den Teller drapiert.
»Wow«, stoße ich bewundernd aus, denn so viel Geschick hätte ich dem Jungen nun wirklich nicht zugetraut. Er lächelt zufrieden und nickt. Hat er mich gehört? Wahrscheinlich nicht, versuche ich meine Begeisterung zu bremsen. Er ist einfach nur zufrieden mit seinem Werk, das ist alles. Und die Ohrenreiberei eben? Wahrscheinlich ein bloßer Zufall? Eine kleine Fliege vielleicht, oder ein Haar, das ihn gekitzelt hat. Dennoch, wenn nur eine winzige Chance bestünde, dass ich Recht habe … Plötzlich erscheint Pocahontas vor meinem inneren Auge, oder wie immer sie heute heißen mag. Was hat sie gesagt? Als Kind wissen wir, wer wir sind und woher wir kommen, wir vergessen es nur im Laufe des Erwachsenwerdens. Kritisch beäuge ich den Jüngling vor mir, sein pickliges Kinn, auf dem schon die ersten, spärlichen Barthaare wachsen. Ein Kind ist er sicherlich nicht mehr, ist irgendwo im Zwischenstadium zwischen Junge und Mann gefangen. Doch dann sehe ich seine himmelblauen Augen, die so klar und naiv blicken wie die eines Säuglings. Vielleicht hat dieser kleine Tollpatsch sich sein kindliches Gemüt bewahrt. Vielleicht kann er mich hören oder spüren? Auch ohne den vierten Dan im MBAE (Menschen beeinflussen auf der Erde)? Ich stelle mich so dicht an ihn heran, dass mein Energiekörper seinen am Arm berührt. Er schüttelt sich kurz und fährt dann fort, die nächste Orangenblüte zu formen. Das kann kein Zufall sein! Er spürt mich! Ich
stelle mich hinter ihn, meinen Bauch an seinen Rücken geschmiegt und breite die Arme aus, lege sie an seine. Plötzlich höre ich in meinem Kopf eine Melodie. Damda-da-da-da-damm, la-lalala. Sie klingt entsetzlich schief, aber gleichzeitig fröhlich und beschwingt. Damdi-du-di-dam. Leise summe ich mit, während Johann die Hand ausstreckt und sie suchend über den verschiedenen Schälchen schweben lässt. Über den gehackten Haselnüssen verharrt sie und ich lege meine gesamte Kraft in einen einzigen Gedanken: »Zimt! Zimt! Zimt!« Nach kurzem Zögern schwenkt die Hand nach rechts und greift nach dem Zimtstreuer. Ich bin begeistert. Sorgsam stäuben wir gemeinsam Zimt auf die beiden Teller und malen mit einem Holzstäbchen zierliche Muster in die goldbraune Schicht. »Jetzt aber die Haselnüsse«, fährt es mir durch den Kopf. Moment mal, war ich das? Gerade noch rechtzeitig kann ich die Notbremse ziehen, die Haselnüsse rieseln zurück in ihre Schale. Stattdessen lenke ich Johanns Hand in Richtung der achtzigprozentigen Bitterschokolade, von der wir mit einem scharfen Messer feinste Scheibchen abhobeln und um die Blüten auf den Tellern verteilen. Langsam beginne ich zu begreifen, wie die Beeinflussung einer anderen Seele funktioniert. Man muss sich öffnen, bereit sein, die eigenen Mauern einzureißen und mit dem anderen zu verschmelzen. Johann und ich werden mehr und mehr eins, zwei Seelen, doch ein Wille, ein Ziel: diese Teller ohne eine Spur von Nüssen zu dekorieren. Fast hat es etwas Sexuelles. »Haselnüsse, jetzt aber die Haselnüsse«, höre ich entsetzt wieder diese Stimme, die nicht zu mir gehört und ich muss all meine Konzentration aufwenden, um Johann davon abzuhalten, erneut
nach den Todbringern zu greifen und mir seinen Willen aufzuzwingen, statt meinen anzunehmen. Wir träufeln zähflüssigen Orangenlikör über die Blüten, die nun aussehen wie von Morgentau benetzt. Die Erfahrung ist unbeschreiblich, berauschend und langsam dämmert es mir, weshalb das SGB eine so lange und harte Ausbildung für Schutzengel vorschreibt. Die Fähigkeit, Menschen zu beeinflussen, ist gefährlich und sollte nur von jemandem ausgeübt werden dürfen, der verantwortungsvoll damit umgeht. Nicht so wie ich, denke ich voll des schlechten Gewissens. Ich habe keine Ahnung, ob ich in dem Jungen irgendeinen Schaden anrichte. HASELNÜSSE, brüllt es in meinem Kopf. Nein, nein, nein, gehe ich dagegen an. Verbissen kämpfen wir miteinander und ich hoffe, dass niemand in der Küche Johann in diesem Moment große Beachtung schenkt, wie er mit über den Nüssen schwebender Hand dasteht und weder vor noch zurück kann. »Keine Nüsse, nein«, denke ich verbissen, aber komme damit nicht so recht weiter. »Ein paar Blättchen Minze vielleicht«, mache ich einen
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