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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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Scheidungsgericht fertigmachten.
    Nein – für den Fall, dass Jez sie verließ, brauchte sie Beweise, damit sie ihre Babys schützen konnte.
    Suzy holte ihr eigenes Handy hervor und tat schließlich, was sie den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte: Sie wählte.

Kapitel 9 Callie
    »Wenn ich
so
mache, dann bin ich wie ein Flieger.«
    Am Parkplatz vor der Kunsteisbahn steht Rae auf einem Poller, breitet die Arme weit aus und streckt die Nase in den Wind.
    Von hier aus gesehen könnten wir am Rand einer Klippe stehen. Unter uns, zehn Kilometer entfernt, liegt London mit dem Riesenrad und der »Gurke«, dem grüngläsernen Hochhaus – aus dieser Entfernung winzige Miniaturen.
    Es war Raes Idee gewesen, heute Abend zum Ally Pally hinaufzulaufen. Das ist ihr Lieblingsplatz. Sie quiekt immer fast vor Begeisterung, wenn sie vor dem Alexandra Palace über die lange Steinterrasse trabt, in dem vorsichtig gebremsten Dauerlauf, den ich ihr beigebracht habe. Unruhig überlege ich, ob es nicht etwas spät für einen Besuch hier oben ist. Am Samstagabend sind die Familien von ihren Ausflügen zu Eisbahn und Ententeich längst nach Hause zurückgekehrt. Ihren Platz nehmen Gangs von Jugendlichen ein. Mit ihren Hunden lümmeln sie bei den Feuertreppen herum, die aussehen wie überdimensionierte Mäusekäfige, und glotzen jeden Vorbeigehenden provozierend an; dazu dröhnt aus ihren verbeulten, auf dem leeren Parkplatz abgestellten Autos laute Musik. Aber es ist immer noch hell genug, dass ich mich sicher fühle. Über uns leuchtet ein hübscher Silberhimmel.
    Ich laufe hinter Rae her und gebe, wie immer, auf sie acht. Sie kurvt in Schlangenlinien um viktorianische Lampenpfosten und durch die Arkaden, die sich unten an der honigfarbenen Ziegelfassade des Palasts entlangziehen; dabei zählt sie die steinernen Löwenköpfe an den Mauern. Vor zwei hohen blauen Türen, durch die auch ein Riese noch bequem durchkäme, bettelt sie mich, sie hochzuheben, damit sie durch die eingelassenen Fenster in den alten, leeren Ballsaal schauen kann. Stellenweise starrt man hinter der Fassade ins Nichts, in eine beunruhigende Leere. Die großen Bogenfenster ragen in die Höhe wie eine Filmkulisse, Vögel flattern ein und aus, seit das Innenleben des Palasts vor langer Zeit von einem Feuer zerstört wurde. Alles nur Fassade und nichts dahinter. Für das Vernichtungswerk genügte ein einziges katastrophales Ereignis.
    »Darf ich da mal durchschauen, Mum?« Rae deutet auf ein Teleskop.
    Sie weiß genau, dass wir normalerweise für solchen Pipifax keine fünfzig Pence übrig haben, aber heute ist schließlich ein besonderer Tag. Ich setze mich neben sie auf die Mauer und lasse die Blicke schweifen.
    Kinder fahren kreischend auf ihren Rollern herum, die Eltern laufen hinterher. Eine schwarze Krähe flattert von den Palaststufen auf und schwebt über den tieferliegenden Park.
    Meine Mauer. Unsere Mauer, auf der wir Hunderte Male gesessen haben.
    Als Rae das Teleskop erst zur einen, dann zur anderen Seite schwenkt, erinnere ich mich wieder an den ersten Monat nach unserem Umzug aus Tufnell Park.
    Eigenartig – damals wusste ich gar nicht, dass es den Palast überhaupt gab. Mir war nicht klar, dass Ally Pally – Alexandra Palace – nicht nur einen Park, sondern tatsächlich ein Gebäude bezeichnet, und bin dann zufällig auf ihn gestoßen. Einen Nachmittag lang habe ich Rae im Buggy steile Wege hochgeschoben, um mir den Schmerz meiner Trennung von Tom von der Seele zu laufen. So keuchte ich immer weiter aufwärts – und ganz oben war er dann, der Palast. Oder vielmehr seine schöne alte Hülse, mit Blick über die ganze Stadt. Von da an blieb ich jeden Tag so lange zu Hause, wie ich es aushielt, bis mir die Decke auf den Kopf fiel. Dann stürzte ich aus der Tür wie ein Taucher, der endlich nach Luft schnappen kann, schob den Buggy mit der dick eingemummelten Rae den Hügel hinauf und setzte mich eine Stunde auf diese Mauer. Meine Einsamkeit linderte das nicht. Hier oben fühlte ich mich so allein wie noch nie in meinem ganzen Leben, trotz der trainierenden Sportler, die schwer atmend und schweißglänzend die steilen Hügel hochsprinteten, trotz der großen Gruppen verschleierter oder Turban tragender Menschen, die an mir vorüberzogen und ihren Angehörigen, die zu Besuch gekommen waren, den Ausblick auf die Stadt zeigten. Ich sah zu den berühmten Wahrzeichen der Stadt hinüber, so fern, dass ich genauso gut auf der Farm in Lincolnshire von

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