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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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ihnen hätte träumen können.
    »Mum?«
    Ich blicke auf und sehe Rae mit dem schweren Teleskop ringen, angestrengt blinzelt sie, um scharf zu sehen.
    »Wart mal.« Ich stehe auf, um ihr zu helfen.
    »Siehst du das Gebäude da drüben, das so aussieht wie ein dicker Stab?«, frage ich Rae, drehe das Teleskop nach Westen und halte es für sie. »Das ist der Telecom-Turm.«
    »Mhm …«
    »Am Montag bin ich ganz in der Nähe von dem Turm, also gar nicht weit weg.«
    Das sage ich, um sie zu beruhigen, aber in Wirklichkeit kann ich es selbst noch kaum glauben. Dass ich am Montag wieder in der Stadt arbeite.
    Rae zuckt mit den Achseln. Sie springt vom Sockel herunter, und wir setzen uns wieder auf die Mauer.
    »Hannah und ich haben in der Schule gespielt, dass wir uns sonnen. Wir haben uns auf den Boden gelegt und so getan, als ob wir unsere Sonnenbrillen aufsetzen.«
    »Ach ja?« Ich lächle. »Am Freitag, als es so sonnig war?«
    »Nein, am Tag nach gestern«, sagt sie.
    Ich lache laut auf. Genau wie Tom zäumt sie, wenn es um Zeitangaben geht, das Pferd von hinten auf. Rae sieht mich verwirrt an. Dann fällt sie in mein Lachen ein und freut sich, dass sie einen Witz gemacht hat. Ich betrachte sie. Wie schade, dass so wenige Menschen Raes Lachen mitbekommen. Sie hat eine dreckige Lache wie der Kriminalhund Murmel aus dem Cartoon, stößt die Luft zwischen den Zähnen aus, dass es klingt wie »schi-schi-schi«. Ich lege den Arm um sie und ziehe sie an mich.
    »Und was hat Henry gemacht?«
    »Der war im Büro von Mr. McGregor, weil er Luke gehauen hat«, sagt sie.
    »Wirklich?« Ich bin so froh, dass Rae anfängt, noch andere Freundschaften zu schließen. Sie und ich, wir machen jetzt beide unsere Gehversuche. Aber komisch, dass mir Suzy nichts von Henry erzählt hat.
    »Haut er dich auch?«, frage ich.
    Sie schüttelt den Kopf. »Henry wird mich heiraten. Sagt er.«
     
    Auf dem Heimweg holen wir uns unsere Samstagabend-Pommes und teilen sie miteinander, als wir durch die stillen Straßen gehen. Abends wird es hier so ruhig. Vorhänge werden zugezogen. Kinder hören auf zu schreien. Hundegebell verstummt. In der Abenddämmerung leuchten neben den Haustüren eine Reihe kleiner Außenlampen auf, die das Aufschließen erleichtern und Besucher freundlich willkommen heißen.
    An unserem Haus heißt uns kein Licht willkommen. Unser Vermieter hat keine Außenlampe installiert, und ich bin nicht befugt, es selbst zu tun. Nicht, dass wir viele Besucher zu begrüßen hätten.
    Um diesen Gedanken zu verdrängen, schiebe ich Rae eilig durch die Tür.
    Rae läuft in ihr Zimmer, ohne dass ich sie dazu aufgefordert hätte. Jede Woche, scheint es, nimmt sie etwas Neues, Schwierigeres in Angriff – Dinge, die Tom und ich ihr nie zugetraut hätten. Sie schnallt sich im Auto jetzt selber an. Heute früh hat sie im Supermarkt Lebensmittel aus den Regalen zusammengesucht und in den Einkaufswagen gelegt. Heute Abend will sie sich selbständig zum Schlafengehen bereitmachen, ihre neue Lieblingsaufgabe, während ich mir ein Glas von dem guten Wein genehmige, der diese Woche im Sonderangebot war – ich habe gleich drei Flaschen gekauft, eine für die Frau gegenüber, eine für Suzy, die später rüberkommen möchte, und eine für mich.
    »Mum, ich bin fertig!«, ruft Rae aus ihrem Zimmer. Als ich hereinkomme, sitzt sie im Bett, ihre Elfenlampen sind schon eingeschaltet und ihr Lieblingsbuch, aus dem ich vorlesen soll, liegt auf dem über und über mit Prinzessinnen bestickten Bettbezug – ein Weihnachtsgeschenk von Suzy. Rae sieht mich herausfordernd an. Denn sie ist wieder mal in ein T-Shirt von Tom geschlüpft, über das nun ihre blonden Locken fallen. Sie hat eine ganze Schublade voller Schlafanzüge und Nachthemden, aber jedes Mal, wenn sie bei Tom in Tufnell Park ist, plündert sie seinen Kleiderschrank. Heute trägt sie ein altes, rotes Shirt von The Clash, das ihr über die Schultern rutscht. Ich zucke kurz zusammen, als ich das Bild vor mir sehe, wie Paul Simonon auf Raes schmalem Körper seinen E-Bass zertrümmert. Ich erinnere mich an den Gig in Camden, als Tom das Shirt getragen hat. An seinen Körper darunter, heiß und feucht vom Tanzen in der überfüllten Halle. Wie er mich träge und entspannt ansah und mich dann in seine Arme zog. Wie ich die Lippen auf dem sonnengebleichten Flaum seiner Haut ruhen ließ, geborgen im Gedränge der Massen.
    Ich habe Rae zu überreden versucht, nachts etwas Wärmeres anzuziehen, aber ich

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