Allein die Angst
Minuten, überschlage ich. Das muss ein Rekord sein. Die Weinflasche auf der Arbeitsplatte ist nicht einmal halb geleert.
»Ich muss los«, sagt Suzy. »Hör mal, ruf mich einfach an, wenn du Muffensausen hast. Und sei nicht nervös – ich weiß, du bist super.«
Nein, das weißt du nicht, denke ich. Du hast keine Ahnung, ob ich super bin oder nicht, weil wir uns über meinen Beruf nie richtig unterhalten haben. Ich bin nicht einmal sicher, ob du überhaupt weißt, was eine Sound-Designerin macht, und du hast keinen Schimmer, wie sehr ich mich anstrengen musste, um eine zu werden. Weil du nie gefragt hast.
Aber ich umarme sie trotzdem; ich sollte dankbar sein, dass ich ihr wichtig genug bin, um mir Mut zu machen.
Als sie geht, dreht sie sich noch einmal um.
»Wie war sie denn?«
»Wer?«
»Die Frau nebenan.«
»Eigentlich recht nett. Sie hat Rae ein kleines Spielzeug geschenkt, als wir rübergegangen sind, Genaueres erzähle ich dir nächstes Mal. Und ich werde mir ein Buch von ihr ausleihen, sie hat Hunderte«, sage ich.
»Vielleicht sollte ich sie mal zum Kaffee einladen«, murmelt Suzy.
»Aha – kaum bin ich fünf Minuten weg, schon findest du Ersatz«, protestiere ich gezwungen fröhlich.
»Glaubst du, sie hat was für Wellness-Spas übrig?«, fragt sie mit einem gekünstelten Comedy-Zwinkern. Bei mir würde so etwas abartig blöd rüberkommen. Suzy aber sieht mit ihrem elfenhaft blonden Bob, den langen, hellen Wimpern und den vollen, sexy Lippen aus wie ein Model auf einer
Vogue
-Doppelseite.
Ich bleibe auf der Schwelle stehen und sehe ihr nach.
Auf einmal überkommt mich eine seltsame Anwandlung, als ahnte ich den Absturz eines Flugzeugs, in dem ein geliebter Mensch sitzt, voraus. Als Suzy den Bürgersteig auf der anderen Straßenseite erreicht, habe ich das dringende Bedürfnis, ihr nachzurufen, dass ich doch nicht arbeiten werde. Dass wir nächste Woche ins Spa gehen werden, auf dem Bauch liegen und uns mit Sandelholz- und Lotusöl einreiben lassen werden.
Aber ich gebe dem Drang nicht nach.
Denn ich muss sie loslassen, nur ein bisschen. Es ist Zeit.
Also bleibe ich wie angewurzelt stehen, als sie durch ihr Gartentor geht. Die Haustür öffnet sich, dann ist sie verschwunden.
Ich blicke hoch. Der Silberhimmel ist schwarz angelaufen. Ich fröstle im Wind. Der Wetterbericht hat Regen angesagt.
Kapitel 10 Suzy
Suzy öffnete die Haustür und ging hinein. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, sackte sie in sich zusammen und zog die Strickjacke enger um sich.
Dann war es also doch kein Irrtum. Ein Druckgefühl stieg in ihrer Brust nach oben wie ein fahrender Aufzug. Sie hielt einen Moment die Luft an und versuchte, den Druck wieder nach unten zu pressen. Im ganzen Haus war kein Laut zu hören.
Um die Kinder nicht aufzuwecken, schlich Suzy auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, vorbei an dem plakatgroßen Studiofoto ihrer drei Jungs. Traurig wandte sie sich ab. Erst vor ein paar Tagen hatte Clara, ihre neue Putzfrau, das Foto bewundert. Suzy hatte genickt, die Wahrheit aber für sich behalten. Dass Henrys lächelndes Gesicht von der letzten der fünfzig Aufnahmen einkopiert worden war, nachdem er auf sämtlichen Aufnahmen zuvor gebrüllt hatte wie am Spieß, weil Jez nicht zu dem Fototermin erschienen war. Der Verkehr, hatte Jez gebrummt. Suzy war nicht so sicher. Sie wusste, dass er keine Lust auf Familienfotos hatte. »Bisschen kitschig, findest du nicht?«, hatte er geknurrt, als sie ihn über den Termin beim Fotografen informierte. Deshalb waren sie auf dem Foto nicht zu fünft, sondern nur zu dritt. Natürlich hätte sich Suzy mitfotografieren lassen können, aber eine Mutter allein mit drei Jungs? Das hieße das Schicksal doch allzu sehr herausfordern. Wenn man scharf hinsah, erkannte man auf Henrys Wangen die geschwollene Röte hinter dem Lächeln, das übrigens mit Schokolade erkauft war – ohne Suzy zu fragen, hatte der Fotograf, mit seiner Geduld sichtlich am Ende, den Schokoriegel aus einer Schublade gezogen.
Oben drückte Suzy bei dem schnurlosen Telefon, das sie zwischen die offenen Türen der Jungs gelegt hatte, die Taste »Gespräch beenden«; damit war auch der Anruf auf ihrem Handy beendet. Das Handy schaltete sie ebenfalls aus und warf einen kurzen Blick auf die schlafenden Kinder. Das leise Wimmern, das sie bei Callie gehört hatte, musste einer von ihnen im Schlaf von sich gegeben haben. Sie setzte sich auf den Boden, schlang die Arme um die Taille und schaukelte vor und
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