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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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hippen Nadelstreifenanzug trägt er ein weißes Hemd mit offenem Kragen.
    »Schön, Sie kennenzulernen, Callie«, sagt er mit einem leichten skandinavischen Akzent. »Ich habe schon viel Gutes von Ihnen gehört.«
    Fast lache ich auf. Die Vorstellung, dass Loll Parker von mir gehört hat, amüsiert mich denn doch. Ein liebenswürdiger Mensch.
    Guy schießt mir einen Blick zu, der besagen will: »Glück für dich, dass er so ein netter Typ ist.«
    Angemessen verwarnt, setze ich mich. »Gut«, sagt Guy. »Loll? Einmal ein Komplettdurchgang?«
    Parker nickt, und Guy dimmt die Lampen. Ein Film läuft auf dem Plasmabildschirm an, ohne Ton bis auf die unbearbeiteten Schauspielerstimmen.
    Parkers zehnminütiger Kurzfilm beginnt mit der Totale auf einen abgelegenen, von Fichtenwäldern umgebenen See in Norwegen. Am Ufer steht eine einsame Blockhütte. Die Geschichte fängt an: Die Hütte gehört einem übergewichtigen Anwalt im Ruhestand, der in Oslo lebt und jedes Wochenende herkommt, sich ein üppiges Frühstück mit Hering und Käse zurechtmacht, sich mit Strohhut, Zeitung und einem selbstzufriedenen Seufzer auf die Veranda setzt und den Blick über den ruhigen See genießt.
    Aber dieses Wochenende wacht er von einem lauten Hämmern auf. Er schaut hinaus und sieht einen Riesenkerl, der direkt vor seiner Hütte das Fundament für eine weitere Hütte legt.
    »Wer sind Sie?«, brüllt der Anwalt von der Veranda.
    »Dein kleiner Bruder«, brüllt der Kerl zurück.
    Er ist tatsächlich der lange verschollene Bruder, der im Ausland dreißig Jahre wegen Mord im Gefängnis gesessen und gleiche Rechte an diesem Seegrundstück geerbt hat. »Unser Vater hat dich immer bevorzugt«, ruft der Kerl zu dem Anwalt hinüber. »Es ist seine Schuld, wenn ich Drogen genommen habe und auf die schiefe Bahn geraten bin.«
    »Aber du stiehlst mir die Aussicht«, winselt der ältere Bruder; er spürt die Drohung, die von dem Jüngeren ausgeht.
    »Ich hatte dreißig Jahre lang überhaupt keine Aussicht. Jetzt bin ich dran«, knurrt der Kerl.
    Der Film verfolgt, wie er weitersägt und hämmert und seine Hütte baut, dem Bruder Stunde um Stunde die Seelenruhe raubt, bis der Anwalt am Ende zu seiner Beherztheit zurückfindet und einen Stuhl auf seinem Dach befestigt. Der Film endet damit, dass der Kerl auf dem seinen einen noch höheren Stuhl aufbaut.
    Am Schluss klatschen Guy und ich, und Parker strahlt. »Ich erkunde das Konzept der Migration«, erklärt er uns in seinem skandinavischen Singsang. »Fast zweihundert Millionen Menschen sind letztes Jahr in ein anderes Land ausgewandert. Lebten zusammengepfercht in Städten, kämpften um Raum und kulturelle Identität.«
    Ich sehe ihn fasziniert an. Parker kann nicht älter sein als ich. Aber während ich fünf Jahre lang zu Hause gesessen bin, hat er solche Sachen gemacht. Hat Ideen entwickelt, hat die Welt bei den Hörnern gepackt.
    Mit einem Schlag tun sich tausend Möglichkeiten vor mir auf. Von den Ärzten höre ich ständig, wie gut es Rae jetzt geht, dass sie ein normales Leben führen wird, von ein paar Risiken abgesehen. Wenn wir wirklich so weit gekommen sind, können wir beide endlich anfangen, ein bisschen zu leben. Wenn ich das wirklich glauben dürfte – oh, was ich da alles leisten könnte …
    Es ist der Film eines Künstlers, visuell überwältigend. Parker erklärt, er habe an den Ton zwei Erwartungen. Die Stille des Sees und des Waldes sollen eingefangen werden, und zu dieser Stille sollen die Störgeräusche des Bauens so heftig wie nur möglich kontrastieren.
    Die Herausforderung ist, wie ich sofort sehe, riesengroß. Zum Fürchten groß. Die perfekten Hintergrundgeräusche für das »Nichts« zu schaffen. Meine Ohren machen sich schon daran, Klänge zu mischen: Das Aufflattern von Spatzenflügeln, eine Brise im Schilf, durch Pflanzengewirr krabbelnde Insekten. Einen solchen Tatendrang habe ich schon seit Jahren nicht verspürt. Aber als Parker mich wieder mit diesem strahlenden, hoffnungsvollen Lächeln ansieht, komme ich mir gleichzeitig vor wie eine Hochstaplerin. Ob ich noch kann, was er von mir erwartet?
     
    Parker bricht zu seinem Agenten auf und lässt mich ein paar Stunden werkeln, dann will er wiederkommen. Ich arbeite an einigen Ideen, und jedes Mal, wenn mir vor Nervosität flau im Magen wird, zwinge ich mich zur Konzentration und kämpfe gegen den Drang an, zur Tür hinaus und die Wardour Street hinunterzurennen. Erst als ich kurz vor Parkers Rückkehr in die

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