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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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sie in der Hand, wägte ab, was sie ihr bedeuteten. Als sie elf war, hatte ihre Lehrerin Mrs. Shaw ihr ein ledergebundenes Exemplar von
Oliver Twist
geliehen; seitdem liebte sie Bücher immer auch wegen ihrer Schönheit und nicht nur, weil sie ihr zur Flucht aus der spießigen kleinen Wohnung ihrer Mutter in Walthamstow verhalfen, eine Wohnung, die vollgestopft war mit Fernsehzeitschriften und massenproduzierten Porzellanballerinen.
    Debs besaß zwei Ausgaben von Thomas Hardys
Tess
; von einer würde sie sich trennen müssen. Die erste mit dem grünen, goldbedruckten Leineneinband hatte sie auf einem einsamen Tagesausflug nach Oxford gekauft, bevor sie Allen kannte, in einem heruntergekommenen alten Antiquariat, in dem es nach Staub und nach Sonne roch. Die zweite war ein abgegriffenes Taschenbuch, dessen Deckel aufklappte und ihren Namen und den Namen der Uni enthüllte, an der sie vor zwei Jahrzehnten Pädagogik studiert hatte. Der Anblick versetzte sie sofort in ihr winziges Wohnheimzimmer zurück, zu dem Fest ihres Professors, bei dem der Wein in Strömen floss, und zu Bruno, dem deutschen Austauschstudenten, von dem sie sich anschließend in betrunkenem Zustand die Unschuld rauben ließ. Zwei Tage lang hatte sie gehofft, bis sie begriff, dass Bruno sie nicht fragen würde, ob sie mit ihm gehen wolle. Dass er nie wieder mit ihr reden würde.
    Sie warf das Buch auf den Haufen für Oxfam.
    Die Poplars durften nicht siegen. Sie durfte Allen nicht verlieren. Unmöglich.
     
    Er hatte angerufen und sich wieder für das Mittagessen angekündigt, deshalb bereitete sie ein Sandwich vor. Thunfisch mit Mais, seine Lieblingsfüllung. Sie hatte sich bemüht, seine Vorlieben und Abneigungen kennenzulernen. Keinen Weichspüler an den Hemden. »Ich möchte im Büro nicht nach Blumen duften, Schatz«, hatte er gesagt und sie unerwartet zum Kichern gebracht. Er mochte gutes, dunkles Ale. Und anspruchsvolle Kreuzworträtsel.
    Als Allen die Tür öffnete, brauchte sie einen Moment, bis sie begriff, dass er sich mit jemandem unterhielt.
    Sie ging in die Diele und sah hinter ihm einen jungen Polizeibeamten.
    »Schatz«, rief er, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. »Alles in Ordnung. Dieser junge Beamte ist nur vorbeikommen, um dir ein paar Fragen wegen des kleinen Mädchens von gegenüber zu stellen. Nichts Beunruhigendes.«
    »Ah. Selbstverständlich«, murmelte sie und lud den Beamten ins Wohnzimmer ein.
    Er war jung, wahrscheinlich noch unter dreißig, hatte aber ein erstaunlich selbstsicheres Auftreten.
    »Wir bekamen gestern den Anruf einer Frau, die Zeugin wurde, wie ein fünfjähriges Mädchen auf die Churchill Road vor ein Fahrrad stürzte. Das Kind war in Ihrer Obhut. Ich möchte Sie bitten, mir zu berichten, wie das passiert ist. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie die Lehrerin des Kindes sind?«
    Die Frage hing mit ihrer ganzen Tragweite schwer im Raum.
    »Meiner Auffassung nach ist das Kind wahrscheinlich wegen seines schlechten Koordinationsvermögens auf die Straße gestürzt«, schaltete sich Allen mit strenger Stimme ein. »Können wir bitte von dieser Annahme ausgehen? Als sich der Unfall ereignet hat, war meine Frau auch nicht in ihrer offiziellen Funktion als Hortbetreuerin unterwegs. Sie half nur einer Nachbarin wegen einer plötzlichen Erkrankung aus. Das alles hat sie sehr mitgenommen. Sie hat nichts zu verbergen, aber wie Sie sehen, hat der Unfall sie sehr erschüttert.«
    Debs sah ihn an. So hatte sie ihren Allen noch nicht erlebt. So musste er reden, wenn er die Einrichtung von Bushaltestellen an ungünstigen Stellen durchsetzte, wo ältere Menschen sie brauchten.
    »Gut«, sagte der junge Beamte. »Möchten Sie mir bitte in Ihren eigenen Worten den Unfallhergang schildern?«
    »Ja.« Debs überlegte verzweifelt, was sie sagen sollte. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was passiert ist. Erst ging sie ganz brav neben mir. Ich hörte hinter mir ein Fahrrad kommen, und im nächsten Moment war Rae nicht mehr da, sondern vor mir, und stürzte auf die Straße.«
    Der Polizeibeamte sah sie prüfend an, als untersuchte er die Leberflecken in ihrem Gesicht.
    Debs senkte den Blick zum Boden.
    »Haben Sie das Gesicht des Radfahrers gesehen?«
    »Ich … ich bin nicht sicher.«
    »Und haben Sie das Kind an der Hand gehalten?«
    »Ich kann mich nicht erinnern … Nein, ich glaube nicht«, sagte Debs. »Sie ging sehr brav, da war es nicht nötig.«
    »Aber ihre Mutter sagt, Sie seien aufgeklärt worden, dass

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