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Allein die Angst

Allein die Angst

Titel: Allein die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Millar
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verschossen, eine Stimme, die lauter war und weniger zaghaft als sonst.
    Suzy betrachtete im Rückspiegel den Backsteinbau dieser Klinik aus Queen Victorias Zeiten. Gestern Abend war sie seit der Geburt der Zwillinge zum ersten Mal wieder dort gewesen. Nie würde sie den Schock vergessen, der ihr in die Glieder fuhr, als der Notarztwagen bei der Ambulanz dieses düsteren alten Gemäuers hielt, als sie die in einem faden Magnolienrosa gestrichenen Wände sah, die streitlustigen Betrunkenen, die angetrockneten Spritzer von Blut und Erbrochenem auf dem Boden. Das war so weit vom makellosen Weiß der Krankenhäuser Colorados entfernt, dass sie, keuchend vor Wehenschmerzen, einen Arzt fragte, ob sie hier wirklich richtig war. Gott sei Dank war Callie, ihre neue Nachbarin, bei ihr gewesen und hatte sie beruhigt, dass alles in Ordnung war. Dass die Ärzte und Schwestern phantastisch waren. Dass sie Rae hier zur Welt gebracht hatte und anstelle von Jez bei ihr bleiben würde, die ganzen fünf langen Stunden, bis im Geburtszimmer die Zwillinge, bläulich angelaufen und nach Luft japsend, das Licht der Welt erblickten.
    Sie und Callie hatten einander angesehen, mit offenem Mund staunend, und diesen Moment überschäumender Lebendigkeit mit einem seligen Lachen geteilt. Suzy liefen die Tränen herunter; sie hatte Callies Hand ergriffen und gewusst, dass sie eine wahre Freundin gefunden hatte in dieser Frau, die ihren Körper wie ihre Psyche im höchst verletzlichen und beschämenden Zustand der Nacktheit erlebt und sie nicht allein gelassen hatte.
    Und wahre Freundschaft, dachte sie und überprüfte ihr Aussehen im Rückspiegel, wahre Freundschaft verzeiht alles.
    Callie hatte jetzt einen Schlag erlitten, und Suzy dafür verantwortlich zu machen lag nahe. Suzy brauchte nichts weiter zu tun, als ganz für sie da zu sein. Ihr Zeit zu geben, damit Callie erkannte, dass sie ihr wieder vertrauen konnte.
    Eine wohlbekannte Gestalt ging an Suzys Wagen vorbei und unterbrach sie in ihren Gedanken. Suzy drehte den Kopf und sah ihr nach.
    Die Frau war in den Siebzigern, vielleicht hatte sie auch nur ein schweres Leben gehabt. Anscheinend war sie aus der Klinik gekommen und ging jetzt den Northmore Hill hinauf. Mittelgroß und übergewichtig, füllte sie ihren hellblauen Regenmantel über dem marineblauen Faltenrock völlig aus. Was aber wirklich auffiel, waren ihre Beine. Sie hatten nichts mit Beinen zu tun, wie man sie in Zeitschriften sieht. Mit den sehnigen Waden von Kindern, die Kletterstangen im Park hinaufklettern oder einem Fußball hinterherrennen. Oder mit den wohlgeformten Frauenbeinen, wie man sie in der Stadt sieht, rassig in Riemchensandalen oder in schwarzen Strumpfhosen und Stiefeln.
    Nein, Beine wie diese hatte Suzy erst einmal in ihrem Leben gesehen. Die Waden waren beinahe so breit wie hoch, von der Farbe roher Würstchen, schwer von Fettschichten. Blaue Adern schlängelten sich über die schuppige, grobe Haut. Hier und da wölbten sich Knoten hervor wie abgebrochene Matratzenfedern. Knöchel waren schlichtweg nicht vorhanden, die Beine waren unten so dick wie oben, die Füße in robustes Schuhwerk gepresst, in dem die Frau nun so schnell wie möglich vorwärtswatschelte. Ihre Anstrengung schien greifbar. Sie beugte sich in steiler Schräglage nach vorn, um ihre Massen hügelauf zu wuchten, ihr breiter, formloser Rücken hob und senkte sich schwerfällig.
    Warum die Eile?
    Suzy sah sich um. Auf der anderen Straßenseite, fünfzig Meter weiter unten, lief ein schlanker junger Verkehrspolizist den Hügel hinauf, unglaublich flink auf seinen langen Beinen. Die alte Frau sah sich nervös um. Er weiß, dass ihr Ticket abgelaufen ist, dachte Suzy. Er jagt ihr nach. Der Gepard und das Warzenschwein.
    »Los, weiter, du schaffst es«, flüsterte Suzy.
    Der Verkehrspolizist stand zwischen zwei Autos, auf den Fußballen federnd wie ein Sprinter auf der Startlinie, und wartete auf eine Lücke im Verkehr, damit er die Straße überqueren konnte. Keine Chance – ein Laster nach dem anderen donnerte den Northmore Hill hinunter. Suzy drehte sich wieder zu der alten Frau. Die verlor zusehends an Tempo, ihre Brust wogte heftig im Ringen nach Sauerstoff, ihre Beine erlahmten bei der Anstrengung, ihre Körpermassen den steilen Hang hinaufzuschleppen.
    Sie streckte die Hand aus, stützte sich auf einen blauen Ford Fiesta und holte dreimal tief Luft. Gehetzt blickte sie sich um, sah dann aber, dass sie noch Zeit hatte.
    Auch Suzy blickte

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