Allein die Angst
Schönes für Allen. Wir haben etwas zu feiern: Wir sind sechs Monate verheiratet.«
Nach einer kurzen Pause schnarrte Alison: »Na, dann will ich dich nicht aufhalten.«
Das Verrückte war, dass Debs ohne Alison ihren Allen nie kennengelernt hätte. Dann wäre allerdings auch das Verhältnis zu ihrer Schwester nicht so getrübt.
Vielleicht war Debs daran schuld, weil sie den Status quo zwischen sich und Alison über den Haufen geworfen hatte. Früher hatte sich Alison immer als Nummer eins behaupten können, wie es ihr ihrer Meinung nach zustand, verdiente sie doch in ihrer Finanzfirma weit mehr als Debs und hatte die interessanteren Hobbys. Debs sang in einem Damenchor – das Spannendste, was sie vorzuweisen hatte. Alison dagegen lernte segeln und nahm in der Türkei an Segeltörns für Singles teil. Sie hatte eine Urlaubsromanze mit Graham und zeigte Debs Fotos von diesem Mann, der sie ihren Worten nach »einfach angebetet« hatte. Er hatte ein rotes Gesicht, das offene Hemd entblößte eine Brust mit Sonnenbrand und einer Haarmatte, die ebenso grau war wie sein Kopfhaar. In der einen Hand hielt er eine Bierflasche, die andere lag auf Alisons Schenkel. Eine Woche lang quälte sie Debs mit Einzelheiten über seinen bevorstehenden Besuch: Er wollte aus Peterborough herüberfahren. Der große Tag kam, ging und wurde nie wieder erwähnt. Debs war klug genug, nicht nachzufragen. Merkwürdigerweise gab ihr diese Geschichte den entscheidenden Anstoß, einmal einen Blick in die Rubrik »Soulmates« ihres
Guardian
zu werfen.
»Kleiner als du«, hatte Alison geflüstert, als Debs sie zum ersten Mal mit Allen in ihrer Neubausiedlung in Palmers Green besuchte und Allen auf die Toilette verschwand. Schon an der Tür hatte Alison die beiden mit fahriger Hektik und hochroten Wangen empfangen, wie es ihre Art war, wenn sie sich unter Beschuss fühlte. »Du siehst immer noch müde aus, Debs. Ist das derselbe Herpes oder schon wieder ein neuer?«, hatte sie gerufen und Allen die mitgebrachte Flasche Chianti mit einem Nicken, aber ohne Dank abgenommen. Als Debs ihr mitteilte, dass sie heiraten wollten, hatte Alison zwei Monate nicht mehr mit ihr gesprochen.
Debs fragte sich manchmal, ob Alison sich über das, was bei ihrer Hochzeit passiert war, etwa gefreut hatte.
Am Ende jagten Debs so viele dunkle Gedanken durch den Kopf, dass sie das Haus verlassen musste und den Hügel von Alexandra Palace hinaufging. Alle paar Sekunden drehte sie sich nervös um, ob der Junge auf dem Fahrrad sie nicht wieder verfolgte.
Heute war es ruhig im Park. Noch zu früh für die Jugendgangs, die sich nach der Schule versammelten und als Imponiergehabe einander sämtliche Schimpfwörter entgegengrölten, die sie kannten. Zu spät für die Mütter mit Kleinkindern, die vom Spielplatz nach Hause gegangen waren, damit die Kleinen ihren Nachmittagsschlaf hielten.
Debs schritt kräftig aus, umrundete dreimal den Rudersee und hoffte, sie würde in der leichten Brise einen klaren Kopf bekommen. Um sich abzulenken, sah sie den Gänsen und Tauben zu, wie sie den Enten das Brot abzujagen versuchten, das ihnen ein Rentner zuwarf. Zu spät erkannte sie, dass die lächelnde Frau am Cafétisch, die ihren Blick aufzufangen versuchte, die Mutter eines Hortkinds war. Debs blickte zu Boden und tat, als hätte sie die Frau nicht gesehen. Was würden sie alle sagen? Lisa Buck hatte heute Morgen recht zögerlich geklungen: »Nein, das ist völlig in Ordnung, Debs. Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie sich wieder besser fühlen – ich glaube, der Direktor möchte Sie wegen Raes Unfall sprechen, wenn Sie wieder da sind, aber lassen Sie sich ruhig Zeit.« Debs wusste, was das bedeutete. Nehmen Sie sich diese Woche frei, und das Kollegium wird sich zusammensetzen, die Ereignisse unter die Lupe nehmen und in Ihrer Vergangenheit herumstochern, ob da etwas Anlass zu Besorgnis gibt. Der Gedanke, dass sie den Vorfall mit Daisy Poplar ans Licht zerren würden, war so entsetzlich, dass Debs anfing, vor sich hin zu singen, um die Bilder zu verdrängen.
Aber erst, als sie wieder zu Hause war und ihre letzten Bücher in die Regale räumte, konnte sie endlich alle finsteren Gedanken in die Kiste sperren.
Die Bücher. Gott sei Dank, dass sie ihre Bücher hatte; bei ihnen fand sie immer Trost. Einige lagen noch auf dem Fußboden, und Debs überlegte, welche sie aus dem bereits vollen Regal aussortieren könnte, damit der Rest Platz hatte. Sie suchte ein paar heraus und wog
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