Allein die Angst
Hause kam, so vergrippt gefühlt habe. Mitten in der Nacht sei er aufgewacht, da habe sie am ganzen Körper einen Ausschlag gehabt. Meningokokken. In der Klinik hätten sie sie sofort mit Antibiotika vollgepumpt, aber ein paar Stunden später sei sie gestorben.
Damals setzte ich mich in den Zug und zählte die Minuten, bis ich wieder zu Hause war und selbst sehen könnte, ob das stimmte. Ich sah mich schon wie betäubt durchs Haus laufen, ich würde ihre Brille auf dem Kaminsims in der Küche sehen, aber sie wäre nicht mehr da, um sie aufzusetzen. Ihre Gummistiefel stünden auf der Veranda, aber sie würde nie mehr hineinschlüpfen, um aus dem Garten Karotten fürs Abendessen zu holen. Wenn Dad beim Beerdigungsinstitut wäre, würde ich »Mum!« rufen. »Mum! Kannst du dein Auto woanders hinstellen? Mum! Was gibt’s zum Abendessen? Mum! Hast du mein blaues Top gesehen?« Denn in der Millisekunde zwischen meinem Rufen und dem leeren Widerhall im Haus konnte ich immer noch hoffen, dass sie antwortet.
Suzy biegt in die Churchill Road ein. Man würde nie denken, dass hier gestern Abend etwas passiert ist. Einen Moment lang hasse ich London. Wo es schon mal vorkommt, dass jemand im Park erstochen wird und nicht einmal die Lokalblätter davon berichten. Als Mum starb, redeten unsere Nachbarn im Dorf noch ein Jahr später darüber, und noch lange nach dem Jahrestag ihres Todes brachten sie Dad Essen oder Blumen vorbei und boten ihm ihre Hilfe an.
Suzy parkt vor ihrem Haus, und wir steigen aus. Die Sonne blendet heute richtig und tut mir nach vierundzwanzig Stunden Klinikkunstlicht in den Augen weh.
»Komm mit und schau’s dir an«, sagt Suzy.
Sie hakt mich unter, und wir gehen ans Ende der Churchill Road, an einem Paar in den Fünfzigern vorbei, das weiter oben an der Straße wohnt. Ich versuche, Blickkontakt herzustellen. Sie müssen gehört haben, was Rae passiert ist. Die ganze Straße muss doch wissen, dass hier gestern ein kleines Mädchen einen Unfall hatte, oder?
Plaudernd gehen sie auf die andere Straßenseite hinüber.
»Ja, danke – es geht ihr gut«, knurre ich leise. Ich bin traurig, dass sie an Rae so wenig Anteil nehmen. Suzy wirft mir einen mitfühlenden Blick zu.
»Was erwartest du hier?«, fragt sie.
Wir bleiben am Ende der Straße stehen, und Suzy deutet auf den Rinnstein.
»Ich glaube, hier ist sie entlanggelaufen – und etwa hier gestürzt oder abgerutscht.« Ihr Finger wandert zur Bordsteinkante an der Ecke. »Hier ist der Junge eingebogen.«
Es gibt nichts zu sehen. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe. Vielleicht einen zerbrochenen Pflasterstein oder einen hochstehenden Gullydeckel als Hinweise, dass so ein Unfall jedem Kind hätte passieren können, nicht nur meinem. Dann entdecke ich etwas. Ein kleines gelbes Plastikstückchen. Ich bücke mich und hebe es auf. Es sieht aus, als wäre es vom Pferdeschwanz des winzigen Püppchens abgebrochen, das Rae immer in der Tasche mit sich herumträgt. Ich suche weiter, finde aber nichts mehr; wahrscheinlich steckt der Rest im Profil des Fahrradreifens.
»Ich geh jetzt rein«, sage ich zu Suzy und entziehe ihr sanft meinen Arm.
»Alles klar, Honey?«, fragt sie. »Ist was?«
Ich zucke zusammen. Es geht mir auf die Nerven, dass sie mich dauernd Honey nennt. »Nein, nichts. Ich möchte nur duschen.«
Sie sieht mich eindringlich an. »Gut«, sagt sie dann. Sie klingt verletzt.
Ich runzle die Stirn. »Es wird schon wieder, Suze. Ich bin nur müde und hab die Schnauze voll. Wir unterhalten uns später.«
Sie nickt, sieht aber alles andere als überzeugt aus.
»Möchtest du, dass ich mit dieser Frau rede?«
»Nein, das mache ich später selbst. Danke fürs Mitnehmen«, sage ich und gehe über die Straße, bevor sie wieder versuchen kann, mich zu umarmen. Ich kann nicht anders. Ich brauche jetzt einfach Abstand von ihr.
Ich klingle an meiner eigenen Wohnung, und ein Mann im weißen Overall macht mir auf. Er wäre eigentlich grauhaarig, hat sich aber eine Glatze rasiert, dass die hohe Stirn und die Furche auf seinem Schädel frei liegen.
»Hi. Sie sind der Klempner, ja?«, frage ich.
»Richtig. Kommen Sie nur rein. Ich bin fast fertig, aber ich musste den Siphon austauschen, und da gibt’s noch einiges aufzuräumen. Ich musste hinten auch ein paar Fliesen abmachen, die kleb ich Ihnen wieder dran, und dann haben wir’s.«
»Super.« Ich folge ihm in die Wohnung, im Grunde ist mir alles egal.
Die Wohnung riecht nach Chemikalien und
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