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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
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Taschen prall von Flachkopfnägeln, den Hammer vom Gürtel baumelnd, schreite ich die Grenze ab. Ungefähr alle dreißig Meter wird an einen auffälligen Baum ein Schild genagelt, damit auch der Allerkurzsichtigste diese Grenze nicht ungewollt überschreitet.
    Das Schilderaufstellen gibt mir Gelegenheit, alte Lieblingsplätze wiederzusehen. Am kleinen Birkenteich streife ich entlang, um nach den Sumpfdotterblumen und dem alten Biberdamm zu sehen. Nichts hat sich hier in letzter Zeit getan. Dann wende ich mich einen Hügel hinauf, einen alten Wildpfad entlang. Die Grenze zieht sich hier über Kuppen mit Hemlocktannen und durch bemoostes Sumpfland. Wo sie auf den Biberteich stößt, finde ich die beiden Eckschilder immer von aggressiven Eindringlingen zerfetzt — von Rothörnchen. Warum sie dies tun, werde ich nie erfahren. Ein einsamer Kanada-Reiher stelzt am Ufer entlang, und eine Familie von Bindentauchern plätschert im Schatten. Aus einer kleinen Quelle nehme ich einen tiefen Zug und stecke dann die restlichen achthundert Meter bis zum Haus ab.
    Immer wieder gibt es arrogante Jäger, die es nicht lassen können, die Schilder zu mißachten. Am ersten Tag der Jagdzeit während meines ersten Herbstes in der Hütte hörte ich ganz dicht beim Wassertank einen Büchsenschuß. Ich nahm die 300er Savage von der Wand und eilte durch den Wald in Richtung des Schusses. Drei stämmige Iren, ganz in Rot gekleidet, die Gesichter vor Anstrengung gerötet, starrten mich an.
    »Meine Herren, dies ist Privatland. Wollen Sie bitte gehen«, sagte ich ernst, das Gewehr in der Armbeuge.
    »Aber, aber«, antwortete einer neckisch, »wir wollen doch nur quer durch zum Staatsland.«
    »Warum haben Sie dann geschossen?« fragte ich gleichmütig.
    »Aber wir doch nicht«, sagte ein anderer und nahm sein Gewehr in die Armbeuge.
    Leichtes Angstkribbeln. Würden sie versuchen, mit Gewalt durchzubrechen? Das Gewehr unauffällig hebend und entsichernd, sagte ich fest: »Hier ist ein Tierschutzgebiet. Mit Schildern abgesteckt. Ist mir egal, ob Sie einen kilometerweiten Umweg machen müssen, aber hier kommen Sie nicht durch.«
    Sie zögerten einen Augenblick, kehrten dann unwirsch um und gingen in ihrer Spur zurück. »Als wenn sie’n Haftbefehl hätte«, flüsterte einer. »Biest«, ein anderer.
    Ein weit beängstigenderer Vorfall trug sich in einer Nebelnacht im November zu. Ich saß am Tisch und schrieb. Alle Gaslampen brannten, um die gespenstische Düsternis ein bißchen zu zerstreuen. Totenstill war es. Gegenüber am anderen Seeufer lag ein außerhalb der Jagdsaison selten benutztes braungrünes Häuschen. Am Eröffnungstag der Jagdzeit war dort eine Gruppe von Männern eingezogen und war immer noch da. Gegen acht Uhr hörte ich fernes Rufen. »Annie, hallo! Annie, bist du da?«
    Ich kannte niemanden aus der Gruppe. Keine anderen Häuser waren an meinem See-Ende noch bewohnt. Konnte es sein, daß sich auf dem See jemand im Nebel verirrt hatte? Aber nur meine engsten Freunde nennen mich »Annie«. Ich löschte alle Lampen und trat leise auf die hintere Veranda. Schwaches betrunkenes Stimmengewirr drang über den stillen See. Ich schlich mich zur Lände hinunter. Mehrere groteske Schattengestalten, von hinten grell beleuchtet, machten sich schwankend auf ihrem Anleger zu schaffen. Es hörte sich an, als würde ein Aluminiumboot zu Wasser gelassen.
    Wieder, lauter: »Annie, o Annie, bist du da?«
    Diesmal nahm ich die Schrotflinte, mit Rehposten geladen, von der Hüttenwand und setzte mich auf die Bank, von der man den See überblickt. Vielleicht würde der Anblick der dunklen Hütte die Männer davon überzeugen, daß ich ins Bett gegangen war, und sie ihre guten oder bösen Streiche vergessen lassen. Auf jeden Fall wäre es dumm gewesen, zu antworten, und es war niemand da, der mir hätte helfen können. Das Rufen, das Rumoren mit Rudern im Boot, das Gedränge auf dem Landesteg dauerte noch eine halbe Stunde an. Dann trabten die Männer ins Haus zurück und schlugen die Tür zu. Leise tropften die Bäume, der See dampfte, der Nebel wurde dicker, die Novembernacht kühler. Ich hielt meine Wache fast bis Mitternacht, denn betrunkene Jäger hielt ich für ebenso unberechenbar wie tolle Hunde.
    Am nächsten Morgen erwachte ich mit einer Wut im Bauch. Nicht nur war meine Schreibarbeit unterbrochen worden, nein, ich hatte auch eine schlaflose Nacht verbracht — auf Horchposten. Es schien mir geraten, den Vorfall im Keim zu ersticken und zugleich

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