Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
Vom Netzwerk:
Himmel, wo im Sommer Schwalben schwirrten und im Winter Schneeflocken tanzten. Voll konnte das Sonnenlicht ihre chlorophyllstrotzenden Nadeln aktivieren, konnte Sturmregen ihre dicken Äste waschen. Alle Attacken von Rindenbrand, Blattläusen, Würmern, Schimmelpilzen, Borkenkäfern, Gallmilben, Raupen, Viren und anderen Plagegeistern, die Pflanzen das Leben schwermachen, hatten sie überstanden, waren von fallenden Ästen, Bärenkrallenhieben, umstürzenden Stämmen und fegenden Hirschgeweihen halbwegs verschont geblieben, hatten Waldbrände und Wirbelstürme überlebt. Nun, gut dreihundert Jahre nach ihrem Aufkeimen, ragten sie als unbezwingbare Individuen voller Charakter empor und gaben meinem Land Würde und Schönheit.
    Mit der Zeit entwickelte ich ein erstaunliches Baumbewußtsein. Zuerst lernte ich die Geräusche differenzieren. Tannen ließen im Wind ein ernstes, tiefes, trauriges Rauschen hören, Kiefern ein höheres, fröhliches, geschmeidiges Sausen. Erstaunt über diesen Unterschied zwischen den beiden Arten — es war der erste, der mir auffiel — , hörte ich nun auch anderen Bäumen genauer zu. Balsamtannen gaben ein kurzes, präzises, höfliches Zischen von sich, Rotahorn und Zuckerahorn ein ungeduldiges Rascheln, Gelbbirken ein sanftes, ruhiges Seufzen.
    Natürlich können diese unterschiedlichen Stimmen von der Baumgröße, von Form und Flexibilität, Nadel- und Blattdicke her erklärt werden. Auch der Wind selbst ruft Unterschiede hervor. Ich bemerkte deutliche Variationen, je nachdem, ob eine frische Westbrise, ein stechender Nordwind, ein böiger Zephyros von Süden oder ein stürmischer Ostwind wehte. Aber der Waldklang ist mehr als das — ebenso wie eine Symphonie mehr ist als die Summe der Instrumente, der Art und Weise ihres Gespieltwerdens und der Spieler.
    Dann die Baumdüfte. An heißen trockenen Sommertagen wirkten die Balsamtannen, Fichten und Kiefern wie riesige Räucherstäbchen und erfüllten die Luft in und vor der Hütte mit Wohlgeruch. Der Teppich aus toten Nadeln, die trockene lockere Erde, das rinnende Baumharz, die sonnenwarme Rinde selbst, sie alle gaben leise Düfte ab. Und die lebendigen Baumnadeln verströmten das früher für heilkräftig gehaltene Balsamaroma.
    Dieser Balsamduft machte die Adirondacks im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert zu einem Mekka für Tuberkulosekranke. Ob nun der Duft selbst die Heilung bewirkte oder die klare kalte Luft, die Muße, der Anblick der schönen Landschaft oder die Anwesenheit von medizinischen Propheten wie Dr. E. L. Trudeau: Viele Todkranke genasen hier. Ich kenne drei Männer, alle rüstig und um die Achtzig, die in den dreißiger Jahren zum Sterben hierher gekommen waren. Sie glauben wie Trudeau, der bahnbrechende Tuberkuloseforscher, daß die harzigen Düfte der Nadelwälder geholfen haben, sie zu heilen. In der Tat haben wissenschaftliche Studien in jüngerer Zeit ergeben, daß die Terpentinausdünstungen der Koniferen einen reinigenden Effekt auf die örtliche Atmosphäre haben und dazu beitragen, die Luft in den Adirondacks sauber und gesund zu erhalten.
    Ein weiteres schönes Erlebnis hatte ich in meinem jungen Balsamtannenwald. An Spätsommernachmittagen sah ich das Sonnenlicht schräg durch die Stämme fallen. Es ließ das dichte, dunkle Gehölz golden aufglühen. Ich begann, die toten Äste, so hoch ich reichen konnte, mit der Axt abzuhauen. Wo ich Stammrinde verletzte, strich ich sorgfältig feuchte Erde in die Wunde, damit der Baum möglichst wenig »blutete« und keine Insekten und Krankheitserreger eindrangen. Den ganzen Sommer über setzte ich dieses Ausästen fort, in immer weiterem Umkreis um die Hütte, bis ich den erwünschten Effekt erzielt hatte. Dann, an einem stillen Septemberabend, setzte ich mich auf mein Verandageländer, pickte mir das Harz von den Händen und wartete auf die Illuminierung des Tannenwaldes durch die untergehende Sonne. Die Sonnenstrahlen waren schnurgerade Diagonalen goldgewaschener Luft. So weit ich blicken konnte, standen die Tannen wie schwarze Stäbe und warfen schwarze Schatten auf die kupferglänzende Erde, auf das goldgrüne Moos und bronzierte gefallene Stämme. Mein kleiner Wald war zu einer Studie von Licht und Schatten geworden, ein Kathedralfenster aus grünen und goldenen Scheiben mit schwarzen Einfassungen, durchleuchtet von der untergehenden Sonne.
    Eine ganz andere Lichtqualität erlebte ich an einem tristen triefnassen Novembertag. Seit einer Woche

Weitere Kostenlose Bücher