Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
Vom Netzwerk:
Winterweide (nur zwanzig Prozent der Gesamtweide) verantwortlich. Das Grundproblem: Es gibt mehr Hirschwild, als die Winterweide tragen kann. Viele Tiere sind daher schlecht ernährt und verhungern.
    Für den Weißwedelhirsch waren die Adirondacks wegen der dichten alten Wälder kein gutes Habitat. Das änderte sich, als die europäischen Siedler kamen. Rodungen für kleine Farmen und Blockhütten schufen Gras- und Buschland, auf dem das Hirschwild gedieh. Brände hinterließen im Wald weitere Lichtungen. Die großen Räuber — Wölfe und Berglöwen — wurden ausgerottet. Später sorgten rücksichtsloses Abholzen und riesige Waldbrände, verursacht von fahrlässigen Forstarbeitern und Funkenflug aus Lokomotiven, für eine noch weitergehende Entwaldung. All diese Faktoren veränderten den Lebensraum und produzierten mehr und bessere Hirschnahrung.
    Unter diesen unnatürlichen Umständen vermehrte sich in den Adirondacks das Hirschwild bis etwa 1890. Dann erfolgte ein Umkipppen: Die Tiere waren zu fruchtbar, überstrapazierten die Winterweide und fingen an zu verhungern. Es kam zu einem Massensterben. Nach Einrichtung des Adirondack-Schutzgebiets im Jahr 1894 begannen sich die Staatswälder vom Holzeinschlag und den Waldbränden zu erholen. Allmählich stellte sich der natürliche Zustand wieder ein, doch bedeutete dieses weniger Äsung für die Hirsche. Seit den 1890er Jahren pendelt die Hirschpopulation bei uns in den Bergen — anders als im Tiefland der südlichen Staatshälfte — zyklisch hin und her. Jahren der Vermehrung folgen in schweren Wintern wieder starke Verluste durch Verhungern, worauf wieder eine Vermehrung eintritt. Diese Pendelschläge sucht die Umweltbehörde durch jagdliche Eingriffe auszugleichen. Etwa fünftausend Hirsche werden alljährlich in den zwölf Adirondack-Counties geschossen. Werden mehr Hirsche, auch Hirschkühe, getötet, so verhungern im Winter weniger Tiere: Man hat gesünderes Hirschwild in einem gesünderen Wald.
    In jedem Herbst kommt ein Jäger — der mächtigste Nimrod von allen — , der sich nicht um Grundstücksgrenzen, Schonzeiten und Jagdaufseher kümmert. Anfang Oktober beginnt er am Himmel zu pirschen und steigt an jedem Herbstabend im Osten höher empor. Hell hängt sein Schwert an seinem Gürtel. Mächtig und gebieterisch am Horizont stehend, signalisiert er das Ende der prächtigen Jahreszeit. Die sonnengelben Nadeln der Lärchen — die letzten, die fallen — rieseln zu Boden. Nun sind alle Bäume kahl. Das Geheul der Kojoten dringt durch den froststarren Wald. Keine Gänse schreien mehr am Himmel. Eines Nachts fällt das Thermometer unter Null, und filigrane Eishäute überfliegen die Seen. Orion ist von den Baumkronen auf mein Hüttendach gesprungen. Der Winter ist da.

4
    ---------------

Meine engsten Freunde

    In jenen ersten Wochen und Monaten meines Hüttenlebens waren die Bäume meine engen und ständigen Gefährten. Jeden Baum im Umkreis von gut hundert Metern lernte ich persönlich kennen. Was zuerst als dichter, wahllos zusammengewürfelter Mischwald aussah- Ahorn, Fichten, Hemlocktannen, Buchen, Birken, Kiefern — , entpuppte sich bei näherer Bekanntschaft als geordnetes Gemeinwesen unverwechselbarer Individuen.
    Die »Vier Schwestern«, eine Reihe Rottannen in enger Berührung, standen fast in Reichweite meiner Schlafkoje. Ein Trio derselben Art gruppierte sich hinter und über dem Anleger, sich nachts als freundliche Navigationshilfe gegen den Himmel abzeichnend. Eine enorme Weymoutskiefer beschirmte das Toilettenhäuschen, eine andere erhob sich kerzengerade wie ein Leuchtturm auf der Landzunge bei den Felsen. Von der Hütte bis fast zum Bach säumte ein junger Tannenwald das hohe Ufer. Fünf weitere stattliche Fichten ragten hinter dem Holzschuppen aus einer Feuchtmulde, unter ihnen streckte sich schütterer Nachwuchs zur Sonne. Mit ihnen allen kam ich in Berührung: durch Pflege, Beschneiden, Ausästen, Anfassen, Bewundern, Lauschen. Die ersten Bäume, die ich kennenlernte und die mir später Kraft gaben, waren die reifen, großen Rottannen und Weymoutskiefern. Das waren kampferprobte Veteranen, ausgefuchste Überlebenstechniker. Angefangen hatten sie als schüchterne Sämlinge auf fruchtbaren, sonnengesprenkelten Bodenflecken. Sie waren vom Verbiß durch Schneeschuhhasen, Mäuse, Schneehühner und Hirsche verschont geblieben. Sie hatten ihre Geschwister unter sich gelassen, waren emporgewachsen über das Walddach hinaus in den freien blauen

Weitere Kostenlose Bücher