Allein in der Wildnis
dem Gesicht.
»Gut«, sagte er beruhigt, amüsiert über die Mückenstiche, die schmutzigen Fingernägel und den Rauchgeruch. »Sie fallen ein bißchen aus dem Rahmen, wissen Sie. Nicht viele Mädchen würden sich so allein in den Wald trauen. Ich muß Ihnen eine bessere Ausrüstung besorgen und Sie mal in eine richtig einsame Wildnis mitnehmen.«
Ungläubig stapelte ich weiter Teller. Der Boß hatte den Ruf eines exzellenten Waldläufers. In der Dachkammer des Hotels türmte sich seine Ausrüstung: Skier, Schlafsäcke, Zelte, Parkas, Moskitonetze, Armee-Hängematten, Bodenplanen, Kochzeug. Welch ein Erlebnis würde es sein, mit ihm kampieren zu gehen!
Der Hochbetrieb am Labor Day, meine Rückkehr zum College und der Semesterbeginn drängten dann alle Gedanken an weitere Ausflüge in den Hintergrund. An Wochenenden freilich trampte ich in die Adirondacks zurück, um im Hotel auszuhelfen. Immer waren da Wanderer, Fotografen, Reiter und Naturliebhaber, die den Wald im Herbstkleid genießen wollten. An einem Wochenende Anfang Oktober blickte mich Mr. Brown über das Stallgeländer hinweg an. »Können Sie nächste Woche ein paar Tage freinehmen?« fragte er mit einem Funkeln in den braunen Augen. »Samstag abend mache ich den Betrieb dicht. Jeder fährt an diesem Nachmittag weg. Ich dachte, wir könnten ein Wasserflugzeug chartern, an einen entfernten See fliegen und Montag und Dienstag kampieren. Mittwoch früh fahre ich Sie rechtzeitig zum Unterricht zurück.«
So begann der herrlichste Kampier-Trip meines Lebens. Am frühen Montagmorgen kam eine Cessna 170 auf Schwimmkufen vor das Hotel geschnurrt. In Packkörben wartete auf der Lände bereits ein Stapel Kampierausrüstung. Seit Morgengrauen hatten wir auf dem Dachboden sortiert und gepackt. Großzügig hatte mir der Boß einen leichten Schlafsack, eine Bodenplane und ein altes leinenes Jagdjackett geschenkt. In einer Speisekiste befand sich reiche Beute aus der Hotelküche, nämlich Grillfleisch vom Feinsten, sahniger Kartoffelsalat, eine selbstgebackene Pastete, reiner Adirondack-Ahornsirup, Apfelauflauf, Milch, Butter, Kakao, Aufschnitt, frisches Brot. Nicht zu vergleichen mit meiner spartanischen Speisekarte vom erstenmal.
Wir luden alles mitsamt einer eisernen Bratpfanne und einem Grill in die Maschine und schnallten uns neben dem Buschpiloten an. Mike war gut fünfzig und in den Bergen wegen seiner langjährigen gekonnten »Hosenboden«-Fliegerei berühmt. Sein verwittertes Gesicht zersplitterte zu einem Grinsen, als er den Gashebel nach vorn schob und über den glatten See rauschte.
»Machst mal Ferien zur Abwechslung, was, Morgan?« fragte er. »Na, hast’s verdient.«
Plötzlich wurde mir klar, daß dies wohl der erste freie Tag war, den mein Boß seit Öffnung seiner Lodge Anfang Juni gehabt hatte. Vier Monate praktisch pausenloser Arbeit — dies reparieren, das in Ordnung bringen, alles entscheiden, Gästewünsche erfüllen, Personal leiten — lagen hinter ihm. Ferien im tiefsten Sinn mußten das für ihn sein. Einen Blick auf Morgans sonnenbraunes Gesicht werfend, merkte ich, daß er entspannter aussah als je zuvor.
»Wieder zum Deep Lake?« fragte der Buschpilot und stellte das Trimmruder richtig, während das Flugzeug elegant über die Uferlinie in den Himmel stieg.
»Ja«, antwortete Morgan. »Du kannst uns bei der felsigen Landzunge am Südufer absetzen. Anne und ich tragen unser Gepäck dann landeinwärts zu dem alten Lagerplatz unter den großen Kiefern. Da sind wir windgeschützter.«
»Guter Gedanke«, sagte Mike. »Das Barometer fällt, und mein gebrochenes Schlüsselbein tut weh; da wird wohl eine von diesen herbstlichen Kaltfronten im Anmarsch sein. Wann wollt ihr zurück?«
»Morgen nachmittag. Kannst du uns gegen vier abholen? Diese junge Dame muß wieder die Schulbank drücken, und ich muß mein Hotel verriegeln und verrammeln.«
Meilenweit glitt unter dem Flugzeug ein Farbenkaleidoskop dahin: in allen Rottönen leuchtende Laubwälder, gelbbraune Biberwiesen, grüngoldene Sümpfe, blaue Seen und Tümpel, graues Gestein, dunkle Flecken Nadelwald. Staunend nahm ich dieses von Straßen, Ortschaften, Fabriken und Einkaufszentren unverschandelte Panorama in mich auf.
In weitem Bogen schwenkte das Flugzeug auf den Deep Lake ein. Wir landeten mit röhrendem Rauschen auf dem schwarzen Wasser. Minuten später standen Morgan und ich auf der Landzunge, umgeben von Gepäck, und verabschiedeten uns von Mike.
»Wenn das Wetter richtig
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