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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Paulsen
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die sauren Beeren da hinein. Genug!, fand er schließlich, warf sich den prallen Sack über die Schulter und machte sich auf den Rückweg zur Klippe am See. Jetzt war es Zeit, mit der Schutzhütte anzufangen. Ein Blick zum Himmel sagte Brian, dass die Sonne noch nicht untergehen würde.
    Wenn ich doch Zündhölzer hätte!, seufzte er. Traurig blickte er am Ufer entlang. Treibholz gab es genug hier am See und im Wald lag viel dürres Holz auf dem Boden. Prima Feuerholz, dachte er. Aber keine Zündhölzer. Wie machten denn die Indianer Feuer? Rieben sie nicht zwei Holzstücke gegeneinander, bis die Glut aufflammte?
    Brian verstaute seinen Beutel mit Beeren im kühlen Schatten unter der Klippe und suchte sich zwei dürre Äste. Nachdem er sie beinahe zehn Minuten aneinandergerieben hatte, berührte er sie mit der Hand, aber sie hatten sich kaum erwärmt. So ging es also nicht, sagte er sich. So konnte man kein Feuer machen. Enttäuscht warf er die Äste weg. Dann eben kein Feuer!, sagte er sich. Und er fing mit dem Bau seiner Hütte an.
    Er schleppte Stangen herbei, Treibholz, das angeschwemmt am Ufer lag, und dürre Äste vom Hügel. Und wenn er sich vom See entfernte, passte er auf, niemals die Felsklippe aus dem Blick zu verlieren. Er flocht ein Gerüst aus Stangen und Zweigen und stopfte Reisig in die Zwischenräume, bis vor der Höhle im Fels eine stabile Wand entstanden war. Es dauerte ein paar Stunden und Brian musste oft Pause machen, weil er sich schwach fühlte – und einmal, weil ihn ein seltsamer neuer Schmerz im Magen zwickte. Ein krampfhaftes Grollen.
    Zu viele Beeren!, dachte er.
    Die kurze Übelkeit war bald vorbei und Brian arbeitete fleißig weiter an seiner neuen Wohnung. Auf der rechten Seite der Reisigwand, zum See hinunter, ließ er als Tür eine schmale Öffnung, fast einen Meter hoch, so dass er bequem hineinschlüpfen konnte. Innen ergab sich eine geschützte Kammer, beinahe fünf Meter lang und drei Meter breit, mit einer Felswölbung als Innenwand.
    »Gut«, fand Brian. »Sehr gut …«
    Draußen ging eben die Sonne unter und in der Abendkühle kehrten die Moskitos wieder, die ihn in dichten Wolken umschwärmten. Auch wenn sie nicht mehr so blutgierig waren wie am Morgen. Klatschend zerdrückte Brian sie auf seiner nackten Haut, bis es gar zu schlimm wurde. Dann schüttete er die Beeren, die er im Wald gesammelt hatte, auf den Sand und zog seinen zerfetzten Anorak über. Jetzt waren wenigstens seine Arme geschützt.
    Zitternd und in die dürftigen Fetzen seiner Jacke gehüllt streckte sich Brian auf den Sand unter der Höhlenmauer, zog die Knie an und versuchte zu schlafen. Aber der Schlaf wollte nicht kommen, obwohl er so müde war.
    Erst weit nach Mitternacht, als Nebel vom See herankrochen und die Moskitos vertrieben, fielen Brian die Augen zu. In seinem vollen Bauch rumpelten leise die Beeren.

7
    »Mutter!«
    Er schrie laut – und wusste nicht, war er von seinem Schrei erwacht oder von den Bauchschmerzen. Sein Magen verkrampfte sich und glühende Zangen zerrten an seinen Därmen. Brian wälzte sich in der Dunkelheit der Höhle, drückte das Gesicht in den kühlen Sand und schrie: »Mutter! Mutter!«
    Noch nie hatte er so etwas erlebt. Es war, als ob all die Beeren, die er verschlungen hatte, mit Kernen und Stängeln in seinem Bauch explodierten. Auf Händen und Knien kroch er zur Tür hinaus und übergab sich am Strand. Dann kroch er weiter, zum Wasser, und erbrach noch einmal. Eine Stunde lang schüttelte ihn die Übelkeit und seine Därme wurden von einem schrecklichen Durchfall zerfetzt. Eine Stunde, die ihm wie ein Jahr vorkam. Bis er völlig leer und kraftlos liegen blieb.
    Dann kroch er zurück in die Höhle und warf sich auf den Boden. Doch fand er keinen Schlaf. Ausgepumpt, wie er war, lag er wach, während die Erinnerungen herankrochen.
    Es war in der Fußgängerzone und Brian sah es in allen Einzelheiten wieder: Seine Mutter hatte im Auto gesessen, neben dem Mann. Sie hatte sich an ihn geschmiegt und ihn geküsst, diesen Mann mit dem kurz geschnittenen blonden Haar. Sie hatte ihn geküsst und es war kein Freundschaftsküsschen, sondern ein Kuss. Dabei beugte sie sich über den Mann mit dem blonden Haar, der nicht sein Vater war, und drückte ihre Lippen auf seinen Mund und küsste ihn, tief und innig. Sie hatte ihm die Wange gestreichelt, die Stirn, während die beiden sich küssten.
    Und Brian hatte es gesehen; hatte gesehen, was seine Mutter mit diesem blonden Mann tat.

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