Allein in der Wildnis
Hatte den Kuss gesehen, der das Geheimnis war, von dem sein Vater nichts wusste.
So deutlich war die Erinnerung, dass er die Hitze des Tages damals in der Fußgängerzone wieder zu spüren meinte – und wieder die Angst erlebte, dass Terry sich umdrehen und alles sehen könnte. Und er erinnerte sich, wie sehr er sich geschämt hatte.
Dann aber versank die Erinnerung und Brian schlief wieder ein.
Er erwachte. Im ersten Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Träumte er noch? Dann sah er die Sonne durch die Türöffnung seiner Hütte strahlen und hörte das bösartige Schwirren der Moskitos – ja, und nun wusste er es. Mit beiden Händen betastete er sein Gesicht. Es war völlig von Mücken zerstochen und übersät mit juckenden Pusteln. Aber die Beule an seiner Stirn war zurückgegangen, beinahe ganz verschwunden.
Den widerlichen Gestank, der hereinwehte, konnte Brian sich nicht erklären. Dann sah er das Häufchen Beeren unter der Höhlenwand – und erinnerte sich an die Nacht, an den Durchfall und das Erbrechen. »Zu viele«, sagte er laut. Zu viele Bauchweh-Kirschen …
Er kroch hinaus und fand die Stelle, wo er den Sand beschmutzt hatte. Mit zwei Stöcken scharrte er das Erbrochene in den Sand, deckte es zu und lief zum See hinunter, um sich die Hände zu waschen und Wasser zu trinken.
Es war früh, die Sonne war eben aufgegangen. Der See lag so still, dass Brian sein Spiegelbild im Wasser sah. Er erschrak. Sein Gesicht war zerstochen und blutverschmiert, geschwollen und voller Pusteln. Sein Haar war verfilzt. Und eine Schramme an der Stirn verklebte sein Haar mit Schorf und geronnenem Blut. Seine Augen waren zwei Schlitze über zerkratzten Wangen und er starrte vor Schmutz. Brian schlug mit der Hand aufs Wasser, um sein Spiegelbild zu verscheuchen.
Widerlich!, dachte er. Hässlich und widerlich.
Selbstmitleid überwältigte ihn. Er war verdreckt, von Moskitos zerstochen, verletzt und hungrig und einsam und hässlich. Er hatte Angst und fühlte sich so elend, als sei er in ein schwarzes Loch gestürzt, aus dem es keinen Ausweg gab.
Er setzte sich auf die Böschung am Ufer und kämpfte gegen die Tränen. Dann aber gab er den Widerstand auf und weinte. Brennende Tränen des Selbstmitleids. Vergeudete Tränen.
Mühsam erhob er sich, wankte zum Wasser und trank – mit sehr kleinen Schlucken. Das kalte Wasser in seinem Magen weckte wieder den Hunger, wie schon am ersten Tag, und Brian richtete sich auf und drückte beide Hände auf seinen Bauch, bis die Krämpfe nachließen.
Er musste etwas essen!
Droben in seiner Höhle lagen die Beeren, wo er sie hingeschüttet hatte, als er nach seinem Anorak griff. Bauchweh-Kirschen, so nannte er sie bei sich. Dennoch wollte er noch einen Versuch wagen. Er durfte die Beeren nicht so gierig hinunterschlingen, wie er es getan hatte, damit ihm nicht wieder übel wurde. Er musste nur den schlimmsten Hunger stillen.
Er schlüpfte in die Hütte. Dort in der Ecke, wo er die gestern gesammelten Beeren auf den Sand geschüttet hatte, krochen Fliegen herum. Brian verscheuchte sie mit der Hand. Dann sortierte er die wirklich reifen Früchte aus – nicht die hellroten, sondern die dunklen, vor Reife beinahe kastanienbraunen Beeren. Als er eine Handvoll beisammenhatte, lief er zum See, um sie zu waschen. Kleine Fische flitzten vom Ufer fort, als er mit der hohlen Hand Wasser schöpfte. Hätte ich doch nur eine Angelschnur und einen Haken!, dachte Brian. Er steckte sich ein paar Beeren in den Mund, kaute bedächtig und spuckte diesmal die Kerne aus. Auch diese reifen Beeren waren herb, schmeckten aber leicht süßlich und hinterließen ein pelziges Gefühl im Mund.
Danach war er immer noch hungrig. Aber die Leere im Magen war verschwunden und seine Beine waren nicht mehr so kraftlos.
Wieder in seiner Hütte, verbrachte er eine halbe Stunde damit, die restlichen Beeren zu sortieren. Die reifen schichtete er auf einen Haufen, die unreifen auf einen anderen. Beide Häufchen bedeckte er mit Gras, um sie vor den Fliegen zu schützen, und schlüpfte wieder hinaus.
Widerliche Beeren, dachte er, diese Bauchweh-Kirschen. Immerhin war es Nahrung und am Abend konnte er – ganz vorsichtig – noch ein paar davon essen.
Ein neuer Tag lag vor ihm. Am Himmel standen einzelne Wölkchen, die aber keinen Regen verhießen. Brian spähte am Ufer entlang und überlegte sich, dass es dort im Gebüsch, wo er die Beeren gefunden hatte, auch andere Beeren geben musste. Süßere Beeren.
Wenn
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