Allein in der Wildnis
er immer den See und den Felsen im Auge behielt, wie gestern, würde er sich nicht verlaufen und sicher wieder nach Hause finden.
Brian erschrak. Schon war diese Höhle unter dem Felsen für ihn ein Zuhause geworden. Nach so kurzer Zeit.
Er drehte sich um und musterte die primitiv geflochtene Reisigwand vor der Höhle. Wasserdicht war sie nicht. Doch sie bot Schutz vor dem Wind. Brian war zufrieden. Immerhin, dieser Platz in der Wildnis war jetzt sein Zuhause.
Warum nicht?, dachte er. War es ihm nicht gelungen, sich mit seinen eigenen Händen eine Hütte zu bauen?
Er machte kehrt und schlenderte am See entlang, hinüber zu den Sträuchern, wo die Bauchweh-Kirschen wuchsen. Seinen Anorak nahm er als Sammelbeutel mit. Schlechte Aussichten, dachte er. Aber vielleicht fand er eine bessere Sorte Beeren?
Bei den Bauchweh-Kirschen angekommen blieb er stehen. Diesmal huschten keine gefräßigen Vögel durch die Zweige. Dort hingen noch immer genügend Beeren. Viele, die gestern noch blassrosa gewesen waren, zeigten jetzt eine dunkle, braunrote Färbung. Sie waren über Nacht gereift. Sollte Brian hierbleiben und sie pflücken? Es konnte nicht schaden, einen kleinen Vorrat im Haus zu haben.
Dann erinnerte er sich an die Bauchschmerzen in der Nacht. Er beschloss weiterzugehen. Bauchweh-Kirschen waren vielleicht nahrhaft, aber mit Vorsicht zu genießen. Er brauchte etwas Besseres.
Weitere hundert Meter am Ufer entlang gab es wieder eine Stelle, wo der Sturm eine Schneise in den Wald geschlagen hatte. Es mussten schreckliche Stürme sein, dachte Brian, die solche Bäume umwerfen konnten. Ähnlich wie auf der Lichtung, die ihn beim Absturz des Flugzeugs gerettet hatte. Hier aber waren die Bäume nicht entwurzelt, sondern auf halber Höhe über dem Boden geknickt. Die Wipfel waren am Boden längst vermodert; die gesplitterten Stümpfe ragten wie abgebrochene Zähne in den Himmel. Ein unbegrenzter Vorrat an dürrem Holz!, dachte Brian. Er wünschte nur, er könnte Feuer machen.
Der Sturm hatte eine Lichtung geschaffen, und wo die Baumwipfel fehlten, fiel das Sonnenlicht ungehindert auf den Waldboden. Dort standen kleine, dornige Büsche, aus denen rote Beeren hervorleuchteten!
Himbeeren.
Diese Sorte kannte Brian. Es gab Himbeersträucher im Park und oft, wenn er und Terry auf ihren Rennrädern dort vorbeikamen, sprangen sie ab und pflückten sich rasch eine Handvoll.
Die Beeren waren prall und reif, und als er eine kostete, schmeckte sie süß – ganz anders als diese vertrackten Bauchweh-Kirschen. Sie hingen zwar nicht in Trauben, aber es gab so viele davon, dass sie Brian beinahe vom Stängel in die Hand fielen.
Oh, wie süß und saftig, dachte er. Sie waren wirklich süß, nur mit einem unmerklichen Beigeschmack von Säure, und Brian pflückte und aß und pflückte weiter. Ihm war, als habe er niemals im Leben etwas so Gutes gegessen. Diesmal aber wollte er klüger sein. Er war satt und hütete sich, noch mehr Beeren hinunterzuschlingen. Er sammelte sie in seinen Anorak, ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen und jubelte: »Jetzt bin ich reich! Endlich genug zu essen.«
Genau in diesem Moment hörte er ein leises Rascheln. Er drehte sich um – und sah den Bären. Wie gelähmt stand Brian da. Er konnte nichts tun, keinen klaren Gedanken fassen. Die Zunge blieb ihm am Gaumen kleben und er brachte keinen Laut heraus.
Ein riesiger Bär. Sein Fell war schwarz, die Nase zimtrot – und er stand kaum fünf Meter von ihm entfernt. Hoch aufgerichtet auf den Hinterbeinen. Im Zoo hatte Brian einmal einen Bären gesehen, einen Schwarzbären aus Indien oder Pakistan. Im Zoo, hinter den Gitterstäben des Käfigs. Dies aber war ein wilder Bär, viel größer als jener im Zoo, und er stand direkt vor ihm.
Direkt vor ihm.
Er stand so nah, dass Brian die Haarspitzen auf seinen Schultern im Sonnenlicht glänzen sah. Schwarz und riesig, mit seidigem Fell, stand der Bär da und starrte Brian an, der wiederum ihn anstarrte. Dann ließ er sich auf die Vordertatzen fallen, reckte die Nase nach einem dornigen Zweig und pflückte mit spitzen Lippen ein paar Himbeeren ab. Leise grunzend trollte er sich und war bald darauf verschwunden. Einfach verschwunden, während Brian sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Mit angehaltenem Atem stand er da, eine Hand nach einer Himbeere ausgestreckt, und wagte sich nicht zu bewegen.
Endlich, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, stieß er leise die Luft aus. »Nnnnfff …« Es war ein
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