Allein in der Wildnis
scharfer Verwesungsgeruch, ein Geruch von modriger Fäulnis, der Brian an alte Grüfte mit Spinnenweben und Staub und zerfallenden Skeletten denken ließ. Er hielt den Atem an. Gebannt starrte er in die Dunkelheit, konnte aber nichts sehen. Draußen heulte der Sturm, düstere Wolken hingen am Himmel und verdeckten das schwache Licht der Sterne. Der widerliche Geruch aber hing in der Luft und erfüllte die Höhle. War der Bär etwa wiedergekommen? Brian dachte an all die Monster-Filme, die er je im Kino gesehen hatte, und spürte sein Herz bis zum Halse schlagen.
Dann hörte er das Rascheln. Ein fegendes, kratzendes Geräusch neben seinen Beinen. Er trat mit dem Fuß in die Richtung, aus der das Rascheln kam, und schleuderte das Beil in die Dunkelheit. Mit einem heiseren Schrei ließ Brian sich in den Sand fallen. Er hatte nicht getroffen. Das Beil schepperte gegen die Felswand, aus der grelle Funken stoben, und ein glühender Schmerz durchzuckte sein Bein, als sei es von tausend Nadeln durchbohrt. »Aaarch!«
Zitternd vor Angst und Schmerzen rutschte Brian auf dem Rücken bis in den äußersten Winkel unter der Höhlenwand. Er hielt die Luft an und lauschte angestrengt.
Da war dieses Rascheln wieder. Atemlos glaubte er zu hören, wie das Geräusch näher kam. Und er sah – oder ahnte – eine dunkle, verschwommene Masse, einen schattenhaften Umriss am Boden. Ein Schatten, der lebendig zu sein schien. Jetzt entfernte sich dieser Schatten, kratzend und scharrend, und schob sich langsam hinaus durch die Tür.
Brian blieb auf der Seite liegen. Er biss die Zähne zusammen und lauschte, ob der nächtliche Angreifer wiederkehrte. Als ihm aber klar wurde, dass das Wesen endgültig verschwunden war, streckte er die Hand aus und befühlte seinen Unterschenkel, von wo der Schmerz wie flüssiges Feuer durch sein Bein strömte.
Vorsichtig ertasteten seine Finger mehrere Stacheln, die sich durch den Stoff der Jeans in seine Wade gebohrt hatten. Lang und spröde waren die Nadeln, mit einer scharfen Spitze am Ende. Jetzt wusste Brian, wer dieser nächtliche Besucher gewesen war. Ein Stachelschwein hatte sich in seinen Unterstand verirrt, und als er es mit einem Fußtritt verscheuchen wollte, hatte das Tier ihm einen Schlag mit seinem Stachelschwanz versetzt.
Vorsichtig befühlte er die Stacheln. Es tat so weh, als steckten hundert Nadeln in seiner Haut. Aber es waren nur acht, die den Stoff seiner Jeans an der Wade festspickten. Brian schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand. Er durfte die Stacheln nicht stecken lassen. Sie mussten heraus. Aber es schmerzte höllisch, wenn er sie nur berührte.
So schnell ändern sich die Dinge!, dachte er. So schnell. Zufrieden war er eben eingeschlafen – und jetzt war alles anders. Mit Daumen und Zeigefinger packte er einen der Stacheln, hielt die Luft an – und zog ihn mit einem Ruck heraus. Der Schmerz flutete bis ins Gehirn. Trotzig packte Brian den nächsten Stachel, riss ihn heraus, und dann den nächsten. Als er vier Stacheln herausgezogen hatte, machte er eine Pause. Der Schmerz, der sich auf seine verletzte Wade konzentriert hatte, floss jetzt wie heiße Lava durch sein ganzes Bein.
Zwei Stacheln, die tiefer im Fleisch steckten, brachen ab, als er sie herauszog. Brian atmete ruhig durch, biss die Zähne zusammen und machte sich wieder an die Arbeit. Zack, riss er den nächsten Stachel heraus, machte Pause und sammelte wieder all seinen Mut. Er zog auch den letzten heraus und blieb zitternd im Dunkel sitzen. Selbstmitleid überwältigte ihn, und wie er dort saß, allein in der Dunkelheit und mit glühenden Schmerzen im Bein, während die ersten Moskitos heranschwirrten, fing er an zu weinen. Es war einfach zu viel. Er konnte es nicht mehr aushalten.
Ich halte es nicht mehr aus – so allein in der Dunkelheit,
ohne Feuer. Das nächste Mal kann es noch schlimmer kom
men. Es gibt nicht nur Stachelschweine im Wald, sondern auch Bären. Ich kann einfach nicht mehr.
Brian stemmte sich hoch und blieb aufrecht im äußersten Winkel der Hütte sitzen. Er umklammerte seine Knie, legte den Kopf auf die Arme und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Er wusste nicht, wie lange er geweint hatte. Später, wenn er an diese Tränen in einem dunklen Winkel unter der Felswand zurückdachte, war ihm, als hätte er damals die wichtigste Regel des Überlebens gelernt: dass man kein Selbstmitleid haben darf. Denn es nützt nichts. Nicht, dass es feige ist oder falsch. Nein, es nützt einfach
Weitere Kostenlose Bücher