Allein in der Wildnis
war immer noch Zeit genug, mit einem brennenden Ast die Klippe hinaufzuklettern und das Signalfeuer anzustecken.
Ja, es gab viel zu tun.
Brian war nicht entmutigt. Ein letztes Mal stieg er mit einem Arm voll Holz zum Gipfel hinauf, dann setzte er sich an den Rand der Klippe und überblickte sein kleines Reich. Unter ihm, zehn Meter tiefer, lag der See. Seit er hier mit dem Flugzeug abgestürzt war, hatte er die Bucht nicht mehr aus dieser Perspektive gesehen. Die Erinnerung an den Aufprall machte ihm Angst, schnürte ihm für einen Moment die Kehle ab. Doch der Moment der Erinnerung ging vorbei und Brian ließ sich von der Schönheit der Landschaft bezaubern.
Das Land war so schön, dass es ihm beinahe unwirklich vorkam. Von seinem Aussichtspunkt überblickte er nicht nur den See, sondern schaute meilenweit über Wälder und Hügel. Es war wie ein grüner Teppich und voller Leben. Unzählige Vögel hausten dort, Insekten und größere Tiere. Ein dauerndes Summen lag in der Luft, ein Zwitschern und Zirpen, wie eine einschläfernde Melodie. In einer Bucht gegenüber, am anderen Ende des L-förmig gekrümmten Sees, ragte ein Felsblock aus dem Wasser. Eine zerzauste Fichte hatte es irgendwie geschafft, dort Wurzeln zu schlagen und ihren knorrigen Stamm in die Höhe zu treiben. Auf einem der Äste hockte ein Vogel – blaues Gefieder, eine wippende Federkrone, ein kräftiger, spitzer Schnabel. Es war ein Fischreiher – ein König der wilden Gewässer –, der sich jetzt plötzlich von seinem Ast schwang und kopfüber ins Wasser tauchte. Ein paar Sekunden später tauchte er wieder auf. Im Schnabel trug er einen zappelnden Fisch, blitzend wie flüssiges Silber im Sonnenlicht. Mit der Beute im Schnabel flog der Reiher eine enge Schleife über den See und landete wieder auf seinem alten Baum. Dort hob er den Schnabel und ließ den Fisch mit einem einzigen Schluck in seinen Kropf gleiten.
Einen Fisch.
Ja, klar!, dachte Brian. Es gab doch Fische im See. Fische, die man fangen und essen konnte. Ein Vogel hatte es ihm vorgemacht …
Rasch kletterte Brian hinunter und lief ans Ufer und spähte ins Wasser. Irgendwie hatte er niemals ins Wasser hineingeschaut, nur auf die Oberfläche. Die Sonne spiegelte sich in den Wellen und blendete ihn. Darum trat er zurück, zog Schuhe und Strümpfe aus und watete ein paar Schritte in den See hinaus. Er drehte sich um, so dass er die Sonne im Rücken hatte – jetzt konnte er bis auf den Grund sehen.
Im Wasser wimmelte es vor Leben. Kleine Fische huschten hin und her, manche schlank und länglich, andere dick und rund. Die meisten maßen drei bis vier Zoll in der Länge; manche waren länger, die meisten allerdings kürzer. Es gab eine schlammige Stelle am Boden, dort, wo der Grund in die Tiefe abfiel. Dort sah Brian leere Muschelschalen herumliegen; also gab es auch Muscheln im See. Während er noch beobachtete, kam eine Krabbe – ein Hummer im Kleinformat – aus einer der leeren Muscheln gekrochen und wanderte, mit ihren Scheren am Boden tastend, langsam zur nächsten.
Während er stand und ins Wasser starrte, kamen ein paar der rundlichen Fische ganz nah heran und schwammen um seine Beine. Brian spannte die Schultern, leicht gebückt, um mit energischem Griff einen von ihnen zu packen. Der ganze Schwarm explodierte förmlich mit blitzendem Flossenschlag und stob so schnell auseinander, dass es ganz aussichtslos schien, einen von ihnen auf diese Weise zu fangen. Bald aber kamen die Fische zurück, wie von Neugier getrieben, und während Brian ans Ufer watete, überlegte er sich eine Möglichkeit, die Fische mit Hilfe ihrer eigenen Neugier zu ködern.
Er besaß weder Haken noch Angelschnur. Aber wenn er es schaffte, sie ins seichte Wasser zu locken, und wenn er einen Speer – einen Fischspeer – hätte, dann musste er nur noch schnell genug zustoßen, um einen Fisch zu erbeuten.
Es kam also darauf an, das richtige Holz für einen Speer zu finden. Was er brauchte, war ein langer, gerade gewachsener Stecken – vielleicht eine der Haselgerten, die er weiter oben am See gesehen hatte. Die Speerspitze konnte er mit dem Beil zurechthauen und abends über dem Feuer härten. Ah, das Feuer! Er durfte nicht vergessen neues Holz nachzulegen. Brian sah nach der Sonne und stellte fest, dass es schon später Nachmittag war. Dies brachte ihn auf die Idee, dass er sich – als Belohnung für all die Mühen des Tages – noch ein Ei genehmigen durfte. Und vielleicht sogar eine Nachspeise.
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