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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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zu reisen, war, mehr als alles andere, das absurde Verbot, das Tibet von der Außenwelt abriegelt.»
    Außerdem ist es dumm, irgendwo aus Prinzip nicht hinzufahren. Es kann nie schaden, sich selbst ein Bild von den Dingen zu machen, denn meistens sieht es vor Ort anders aus als gedacht. So muss ich zum Beispiel sehr schnell meine Vorstellungen von der tibetischen Landschaft korrigieren. Zwar sieht es direkt hinter der Grenze tatsächlich so trostlos und öde aus wie auf dem Mond. Wir fahren auf einer Schotterpiste einen Fluss entlang, der dunkelrotes Wasser führt, und sind von düsteren, mit Gestrüpp bewachsenen Bergen umgeben. Doch dieses Bild ändert sich sofort, als die Wolken verschwinden. Yaks sonnen sich auf der Straße und stehen gemächlich auf, sobald sich unser Jeep nähert, ein hellgrüner Linienbus aus Lhasa macht am Straßenrand Rast, und dunkelgrüne Wiesen leuchten im tibetischen Licht. Dann tauchen inmitten wogender Gerstenfelder kleine Dörfer auf. Eigentlich unterscheidet sich diese Landschaft kaum von der in Westsichuan. Nur die Passstraßen sind noch länger und gewundener. Der Grund dafür ist nicht, dass die Pässe sehr viel höher lägen. Es geht einfach nur viel tiefer runter. Der Osten Tibets wird von einigen sehr großen Flüssen durchströmt, die sich tief in die Berglandschaft eingegraben haben. Der erste ist der Jinsha, der zweite der Ngom Chu (tibetisch) oder Lancang Jiang (chinesisch), der unter dem Namen Mekong weitaus bekannter ist. So heißt der Fluss weiter südlich, in Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam. Diese Flüsse und ihre Canyons bringen auch eine neue Dramatik in die Landschaft.
    Als wir ein paar Kilometer vor der Mekong-Schlucht halten, weil ich tibetische Bauern dabei fotografieren will, wie sie vor einer alpinen Kulisse ihre Gerste mit Sicheln ernten, höre ich ein leises Zischen. «Äh, Bart», rufe ich dem Guide zu, «ich glaube, der linke Hinterreifen verliert Luft.»
    Für Bart ist das kein Grund zur Beunruhigung: «An der Strecke», meint er, «gibt es überall Werkstätten, wo man den Reifen flicken lassen kann.» Also fahren wir weiter, immer tiefer in den Mekong-Canyon hinab. Kurz bevor der Fluss in Sicht kommt, hockt plötzlich ein seltsames Tier auf der Straße. Erst als es zum Flug ansetzt und seine enormen Flügel ausbreitet, erkenne ich, dass es sich um einen großen Geier handelt. Er flieht auf einen kleinen Hügel, über dem auch ein Schwarm schwarzer Raben kreist. «Luftbestattung», weiß Bart ausnahmsweise. Das ist die traditionelle Form des Umgangs der Tibeter mit ihren Toten. Der Körper wird zerstückelt, und die Einzelteile werden an bestimmten Stellen in den Bergen ausgelegt, als Vogelfutter. Die Seele des Toten wird so befreit und kann danach reinkarnieren.
    Wir rasten auf dem Grund des Canyons an der einzigen Mekong-Brücke weit und breit. Allein sitzen wir in einem schäbigen Restaurant, neben dem noch einige andere schäbige Häuser und Holzhütten stehen. Davor baumelt ein Käfig mit einem Papagei, der partout nicht mit Bart sprechen will; das geschieht dir recht, denke ich. Unterhalb der ungeteerten Straße fließt zwischen steilen Felswänden eingeklemmt der dunkelrote Mekong. Nevada, Colorado, Utah könnte das hier sein, und wenn jetzt noch ein Trupp Indianer in den Canyon ritte, würde mich das nicht wundern. Dazu passt, dass es plötzlich richtig heiß geworden ist. Und noch etwas hat sich verändert. Der Hinterreifen zischt nicht mehr. «Dorje meint», sagt Bart, «dass der Reifen wieder in Ordnung ist.»
    Das muss eins von diesen tibetischen Wundern sein, von denen man in der Tibetliteratur immer wieder liest. Das Wunder ist aber auch ungemein praktisch, denn so spart Bart das Geld für die Reparatur, und wir können auf den nächsten Pass. Es ist der Dungda La, nicht nur ein Doppelpass, sondern auch der erste Pass auf der ganzen Strecke, der knapp über fünftausend Meter hoch ist. Bevor es losgeht, müssen wir aber an einem Polizeiposten vor einer geschlossenen Schranke warten. Mit uns stehen etwa zwanzig weitere Jeeps Schlange. Es sind fast alles Mietwagen, und drinnen sitzen chinesische Offroad-Touristen, denen wir seit Markham immer wieder begegnet sind. Es sind ganze Kolonnen unterwegs, denn der Osten Tibets ist in den letzten Jahren für Autofahrer, die in den Millionenstädten des Ostens nur im Stau stehen, zu einem großen Autoabenteuerspielplatz geworden. Aber nicht nur Offroader haben diesen Teil Chinas für sich

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