Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Puls steigen. Vielleicht ein Polizeiwagen auf dem Weg zur Routinekontrolle? Dummerweise ist es Samstagnacht, da sind selbst in tibetischen Garnisonsstädten etliche Taxis unterwegs. Alle zehn Minuten stehe ich auf, gehe rüber zum Fenster, sehe auf die Straße und den großen Kasernenhof dahinter, dann lege ich mich wieder hin, beruhigt für allenfalls fünf Minuten. Zwischendurch rauche ich eine Zigarette nach der anderen und denke an das, was die illegale Tibettouristin Alexandra David-Néel vor mehr als siebzig Jahren aufgeschrieben hat: «Menschen, die ein schwaches Herz haben oder ihre Nerven nicht ausreichend im Griff, sollten besser eine solche Reise meiden. Dinge wie diese können leicht einen Herzschlag oder Wahnsinn auslösen.» Immerhin weiß ich jetzt, was sie mit «Dinge wie diese» gemeint hat.
Tatsächlich wäre ich in diesem Moment gerne woanders. Ich glaube zwar nicht, dass mein Herz schlappmacht oder ich heute Nacht dem Wahn verfalle, doch hasse ich mich für meine übertriebene Angst und Nervosität. Ich würde mich gerne eine Spur heroischer benehmen. Als Jugendlicher habe ich immer geglaubt, es sei meine Bestimmung, ein Revolutionär im Untergrund zu werden, das Verstecken von Illegalen mein täglich Brot. Doch jetzt wird mir ausgerechnet in dem Land, auf das ich damals alle meine revolutionären Hoffnungen projizierte, klargemacht, dass ich zum Verstecken von Illegalen nicht im Mindesten tauge. Ein wirklich tragischer Moment in meinem Leben. Die Illegale selbst ratzt derweil munter weiter. Nur ab und zu redet sie sehr laut im Schlaf, ich zucke jedes Mal zusammen. Ich kann zwar ihr Traumspanisch nicht verstehen, doch es hört sich so an, als bequatsche sie schon wieder chinesische Polizisten.
So gegen vier Uhr morgens schlafe ich endlich doch noch ein. Um sieben wecke ich Cristina. Jetzt ist meine größte Sorge, dass sie unbemerkt wieder aus dem Hotel kommt. «Willst du wirklich immer noch in die Brahmaputraschlucht?», frage ich. «Natürlich, wieso denn nicht?», gibt sie zurück. Dann verabschieden wir uns mit Wangenküssen. Ich stelle mich ans Fenster und warte unruhig darauf, dass sie unten auf der Straße auftaucht. Sie lässt sich geschlagene zehn Minuten Zeit, und ohne sich noch einmal umzusehen, stapft sie dann entschlossen in Richtung Brücke. Eigentlich, so denke ich, müsste ich ihre Reise aufschreiben. Dagegen ist doch das, was ich hier mache, nur ein etwas ausgedehnterer Sonntagsspaziergang eines alten, viel zu nervösen Sacks.
Sieben Tage in Lhasa
Es könnte so schön sein in Tibets Hauptstadt, wären da nicht König Dorje, die Potala-Palast-Wächter, die chinesischen Außen-und die tibetischen Innenarchitekten. Und dann macht Olympia unserem Helden einen Strich durch die Reiserechnung. Dabei schreiben wir erst das Jahr 2007.
Nur zwei bemerkenswerte Vorfälle ereignen sich auf den letzten fünfhundert Kilometern von Bayi nach Lhasa. Einmal werden wir von einem zähnefletschenden Hund attackiert, der den Jeep irrsinnigerweise bei voller Fahrt von der Seite anspringt. Ich kriege einen Schreck und verstehe sofort, weshalb in jedem Tibet-Reisebuch die Autoren von ihrer Angst vor den tibetischen Hunden schreiben. Selbst ein Naturbursche wie Heinrich Harrer hatte großen Respekt vor diesen Bestien mit «Riesenkräften», nachdem er einmal von einem solchen Hund angefallen und übel zugerichtet worden war. Der zweite Zwischenfall ist eine Radarfalle, in die der Jeep gerät. Dreißig Kilometer in der Stunde sind auf einem geraden, freien Stück Straße erlaubt; Dorje aber fährt fünfzig. Das kostet hundertfünfzig Yuan. Der Fahrer ärgert sich nicht wenig, und ich staune, dass wir ausgerechnet hier am Ende der Welt geblitzt werden – von einer Polizistin in der adretten chinesischen Polizeiuniform und mit Radarpistole.
Nach Bayi sind wir nun im Westen Tibets angekommen, wo es offenbar organisierter zugeht als im wilden Khampa-Osten. Es regnet nicht mehr, und die Landschaft sieht jetzt tatsächlich so karg und öde aus, wie ich es von Fotos kenne. Die Straße ist viel besser, und es gibt gleich eine ganze Reihe von Kontrollen. Einmal werden LKWs überprüft, ob sie illegal geschlagenes Holz geladen haben, ein anderes Mal, ob sie zu schwer sind, und für alle gibt es immer wieder Geschwindigkeitskontrollen.
Auch kurz vor Lhasas Stadtgrenze ist ein Checkpoint eingerichtet. Hier überprüft die Polizei unter anderem Jeeps aus Sichuan, ob sie gegen Bezahlung ausländische Touristen
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