Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
merke ich, dass es nicht einfach werden wird, mein neuestes Forschungsprojekt zu realisieren. Ich hatte mir eine kleine beschauliche Bergstadt vorgestellt, doch Yingshan ist noch chaotischer als die bisherigen chinesischen Städte. Es gibt keine Straßenbeschilderungen, noch nicht einmal auf Chinesisch. Dafür wimmelt es in den Straßen von Mopeds und Motorrädern, wie ich das sonst nur aus den Ländern Südostasiens kenne. Motorisierte Zweiräder sind aus den großen chinesischen Städten längst verbannt, um mehr Ordnung auf den Straßen zu bekommen. In Yingshan scheint man keinen Wert darauf zu legen. Stattdessen muss es hier ein Gesetz geben, das die Bürger auffordert, ohne Unterlass Krawall zu machen. Die Stadt steht unter Dauerbehupung, und alle zehn Minuten wird geschossen. Okay, das ist Feuerwerk, das die Chinesen übrigens auch erfunden haben, weil sie nichts mehr fürchten als eine stille Welt.
Ich checke im erstbesten Hotel ein. Es heißt «he Hotel of Chu Dong». Es hieß mal anders, aber das «T» ist aus der Leuchtschrift über dem Eingang gefallen. Drinnen sieht es aus wie in den Kulissen für einen französischen Existenzialistenfilm aus den fünfziger Jahren. Die Wände in den riesigen Zimmern sind mindestens vier Meter hoch. Dafür lösen sich die stockfleckigen Tapeten ab, und es riecht muffig. Die gepolsterten Stühle stecken noch in ihrer Transportfolie. Das ist hierzulande üblich, weil die Chinesen glauben, so könnten sie die ganzen Sachen irgendwann nochmal als neu verkaufen. Es steht auch ein Schreibtisch am Fenster, auf dem Hotelbriefpapier und Briefumschläge liegen. Abgesehen davon, dass ich gar nicht an den viel zu niedrigen Schreibtisch passe: Ist ein Schreibtisch mit Briefpapier und Umschlägen nicht so etwas wie der Blinddarm eines Hotelzimmers – ein überflüssiges Relikt aus grauer Hotelvorzeit –, weil niemand mehr Briefe schreibt, auch in China nicht?
Am nächsten Morgen will ich mich sofort auf die Suche nach dem Bi-Sheng-Museum machen. Ich finde auch sofort einen Neues-China-Buchladen, von dem jede chinesische Stadt mindestens einen hat. Der Laden ist düster, fast menschenleer und eine Enttäuschung. Es gibt noch nicht einmal einen Stadtplan von Yingshan, und als ich nach dem Bi-Sheng-Museum frage, weiß die Buchhändlerin nicht, wovon ich rede. So kann ich mir keine Verdienste um meine neue Heimat erwerben. Ich schwöre mir aber, dass ich nicht dasselbe wie in Anqing mache und auch hier einem Phantom hinterherjage. Ich werde einfach spazieren gehen und mir ansehen, was in einer chinesischen Kleinstadt so los ist.
Nicht allzu viel. Am braunen Xi-Shui-Fluss waten sehr braun gebrannte Männer in Badehosen durchs Wasser. Sie schieben Lastwagenreifenschläuche vor sich her, in denen sie irgendetwas aus den schmutzigen Fluten sammeln. Vielleicht sind sie auf Flusskrebse aus, das ist nicht zu erkennen, denn bisher hat noch keiner etwas gefangen. In den Straßen sitzen die Händler vor ihren Läden und warten stoisch auf Kunden, die Plastikwannen, Stahlrohre oder Obst und Gemüse kaufen wollen. In der riesigen Wartehalle des Busbahnhofs haben die Angestellten ein Netz gespannt und spielen Federball. Und vor der Halle kackt ein kleiner Junge gerade mitten auf die Straße.
Der einzige Park der Stadt liegt auf einem kleinen Hügel. Auf seiner Spitze steht eine Pagode mit zwei Türmen, die aus revolutionären Tagen stammen muss. Ein roter Stern krönt sie, zu ihren Füßen schneeweiße Büsten von Offizieren oder Generälen. Wahrscheinlich soll die Pagode an das 25. Korps der Roten Armee erinnern, das sich von Yingshan auf den Langen Marsch machte, auf dem Mao den nationalistischen Truppen Chiang Kai-sheks entkam. Der ganze Park ist in einem miserablen Zustand. Geländer und Mauern zerbröckeln, an der Pagode sind einige Scheiben eingeschmissen, und das Museum, das an die Soldaten erinnern soll, hat geschlossen. Der Eingang zur Pagode ist verrammelt, sodass ich nicht der heiligsten Touristenpflicht nachkommen kann, dem Auf-Türme-Klettern.
Dafür steige ich am Nachmittag auf einen der Berge, die Yingshan einrahmen, und finde hier auf halber Höhe versteckt hinter hohem Schilfgras einen kleinen Tempel. Es ist mehr ein ummauerter Garten, in dem unter einem Schutzdach ein Buddha auf der Seite liegt. Ich weiß von meinen Reisen durch Südostasien, dass liegende Buddhas entweder einfach schlafen oder gerade ins Nirwana eingehen. Ich habe aber vergessen, woran man das unterscheiden
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