Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Entfernung. Eine große Fontäne spritzt an seinem Fuß heraus. Trotzdem ist das Erste, was ich fühle, Enttäuschung. Das soll der größte Damm der Welt sein? Ich hatte einen erschreckend hohen Betonwall erwartet, so etwas wie den nach innen gewölbten Hoover-Damm, der südlich von Las Vegas liegt und hinter dem man die aufgestauten Wassermassen förmlich spürt. Hier spüre ich gar nichts. Die angeblich hunderteinundachtzig Meter hohe Staumauer wirkt noch nicht einmal besonders hoch, und dass sich das Wasser hinter ihr auf sechshundert Kilometern stauen soll, kann ich mir selbst mit großer Anstrengung nicht vorstellen.
Aber vielleicht muss ich am Fuß der Mauer stehen, um das richtige Damm-Feeling zu kriegen. Ich frage den Fahrer, ob er mich nach unten bringen kann, zum offiziellen Dreischluchtendamm-Park. «Kein Problem», sagt er und hält in der nächsten Kurve. Ich will gerade fragen, was das soll, da springen drei braungebrannte, pferdeschwanztragende Frauen aus einem Häuschen. Es müssen Hexen sein, weil sie alle Hexenstimmen haben. «Wartet! Wartet!», kreischen sie, und eine wedelt dabei mit einem Stück Papier. Es ist eine Eintrittskarte für den Mauerpark, die sie offenbar herbeigezaubert hat und mir zu einem günstigen Preis verkaufen will. Ich lehne ab, denn mit solchen Tickets gibt es später oft Probleme. «Warum willst du nicht?», zischt mich die Anführerin der Hexen an. «Zu teuer», sage ich und bitte den Fahrer, sofort weiterzufahren. Da packt mich die Oberhexe am T-Shirt-Kragen, schüttelt mich ein bisschen und fragt: «Wie viel willst du geben?» – «Wie viel? Wie viel? Los, sag!», echoen die anderen und strecken auch die Hände nach mir aus. Endlich gibt der Fahrer Gas. Ich komme los, allerdings um den Preis einer aufgeplatzten Ärmelnaht. Mein Fahrer hat mich zwar vor den drei Hexen gerettet, verspürt danach aber keine rechte Lust mehr, mich ins Tal zu bringen. In der nächsten Kurve hält er schon wieder und zieht eine kleine Broschüre aus der Jacke. Es ist Werbung für ein Wildwasserrafting. «Das ist toll. Willst du nicht dahin? Die Fahrt kostet dich auch nichts.» Es reicht wirklich langsam. «Nein, ich will sofort zum Eingang vom Staudammpark.» Jetzt fällt dem Fahrer ein, dass der Weg dorthin sehr weit ist, und er will mehr Geld. «Wie viel?» – «Das weiß ich nicht. Kommt darauf an, wie lange es dauert.» Ich würde ihm gerne sagen, dass er das wissen müsste, denn schließlich wohnt er in der Gegend, doch der Satz ist mir zu kompliziert. Ich beharre aber darauf, dass ich nur fahre, wenn er mir vorher einen Preis nennt. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns auf fünfundzwanzig Yuan für die gesamte Tour.
Es geht ins Tal hinab, und plötzlich sind wir in einem nicht enden wollenden Tunnel. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich habe prinzipiell kein Problem damit, mein Leben einem unbekannten Mopedtaxifahrer anzuvertrauen, schließlich bin ich selbst Motorradfahrer und kenne ungefähr das Risiko. Ich habe aber ein Problem, das in einem kilometerlangen, kalten, unbeleuchteten Tunnel zu tun, wenn der Scheinwerfer des Mopeds nur schwarzes Licht produziert. Kaum habe ich den Tunnel überlebt, hält der Fahrer wieder an und erklärt, er sei jetzt genug gefahren. «Da vorne ist die Busstation. Da gibt es einen Bus zum Eingang des Staudamms.» – «Okay, dann gebe ich dir auch nur zwanzig Kuai.» – «Zwanzig? Ich will fünfzig haben.»
Ich bin baff. «Warum das? Wir hatten fünfundzwanzig vereinbart.» Statt sofort zu antworten, hockt sich der Fahrer an den Straßengraben und zeichnet mit einem kleinen Stöckchen unsere Route in den Sand. Dann nennt er zu jedem Streckenabschnitt einen Preis. Ich lache über so viel Unverfrorenheit nur höhnisch. Da hält ein Kleinbusfahrer an und lässt sich berichten, was passiert ist. Noch mehr Autos halten, langsam bildet sich um uns herum eine Traube von Leuten, von denen jeder eine Meinung hat. Das Gemeine aber ist, dass alle dem Fahrer recht geben, keiner mir. Das steigert meine Wut nur noch, und mit einem Mal kommt etwas über mich. Ich kann immer noch nicht genau sagen, was es war, aber fest steht: Ich kann plötzlich Chinesisch reden. Ich spreche jedenfalls viel mehr als die üblichen Brocken und formuliere auch viel flüssiger, sodass ich es tatsächlich schaffe, eine kleine Ansprache zu halten. Die geht zusammengefasst etwa so: «Ihr seid hier allesamt gemeine Betrüger. Ich kann keinen von euch leiden. Eure Stadt ist ein sehr
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