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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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nicht über den entgangenen Jangtse-Abschnitt, denn draußen regnet es aus Kannen.
    In der Wartehalle aber bin ich im echten China, ganz wie gewünscht. Noch echter wird es gegen Mittag: Nach einer Durchsage rennen alle los, drängeln, schreien, schieben. Das nutzt zwar alles nichts, denn durch eine Schleuse vor dem Ausgang werden immer nur rund hundert Leute auf einmal gelassen. Der Zahnradfahrstuhl, der die Passagiere hinunter zu den Schiffen bringt, kann nicht mehr bewältigen. Doch gegen die urchinesische Angst, in der Masse zu kurz zu kommen, hat ein vernünftiger Gedanke keine Chance.
    Ich lasse mich einfach mitschieben und -schubsen, denn das ist die beste Methode zu überleben. Ich lasse mich auch in die Fahrstuhlkabine quetschen und über nasse Pontons treiben. So gelange ich fast von allein auf das Zwischendeck des Schiffes, das mich nach Fengjie bringen soll. Es heißt Xiansheng, und das Erste, was ich hier sehe, ist ein Schild, das den Fremden wohl schon ein bisschen auf die Reise einstimmen soll: «When your life and property is violated, when you are in danger or disaster, please inform the police.» Mich wiederum sieht ein dienstbeflissener Steward. Er fischt mich aus der Menschenmenge, die sich um ein kleines Kabuff drängelt, tauscht mein Ticket gegen einen grünen Plastikjeton und zeigt mir dann meine Kabine auf dem zweiten Deck.
    Durchaus erleichtert schließe ich die Tür hinter mir und schaue mich um. Die Kabine sieht aus wie eine Gefängniszelle, nur dass die Fenster nicht vergittert sind. An den Wänden zwei eiserne Doppelstockbetten, auf denen Spanplatten liegen, bedeckt von dünnen Schaumgummimatratzen. Der Fernseher, der auf einem Schreibtisch steht, ist kaputt. Der über ein Bett geschraubten Leselampe fehlt die Neonröhre, und es stinkt entsetzlich aus dem Hockklo neben der Tür. Ich bin begeistert. Ungefähr so hatte ich es mir vorgestellt. Nur meine Feinripp tragenden Mitpassagiere fehlen, aber die kommen sicher noch.
    Da habe ich mich allerdings verrechnet. Als zehn Minuten später ein langgezogenes Elefantentuten ertönt und wir ablegen, bin ich immer noch allein. Bei einer ersten Inspektion stelle ich fest, dass die gesamte zweite Klasse leer steht und in der ersten höchstens zwei Kabinen belegt sind. Komisch, bei dem Gedränge, das auf dem Zwischendeck geherrscht hat. Das Rätsel löst sich in der dritten Klasse, die im untersten Deck kurz oberhalb der Wasserlinie liegt. Die Kabinen mit acht Betten sind bis auf den letzten Platz ausgebucht. Hier ist es laut und stinkt nach Diesel, weil der Maschinenraum auf gleicher Höhe ist. Hier hocken nun die Unterhemdenmänner auf den Betten, schaufeln sich in Windeseile Instantnudelsuppen rein und pfeffern danach die leeren Pappschachteln in hohem Bogen über Bord.
    Ich würde mich gerne mit diesen Leuten unterhalten, doch als ich an ihren Kabinen vorbeigehe, ernte ich ablehnende Blicke. Also gehe ich an den Bug des Schiffes und blicke über den nagelneuen Stausee. Wir fahren zwischen kleinen Inseln hindurch, die früher Berggipfel waren. Nicht mehr lange, dann werden sie ganz verschwunden sein. Das kann ich an den Pegeln ablesen, die immer wieder am Ufer auftauchen. Momentan stehen sie bei hundertfünfundvierzig Meter, was daran liegt, dass Wasser abgelassen wurde, um Platz für die Sommerfluten zu schaffen. Die Pegel aber reichen bis in die Nadelwälder an den Hängen. Ganz oben prangt immer eine 175, die große Zukunftszahl. Weil ich nichts Besseres vorhabe, inspiziere ich weiter das Schiff. Ein ziemlich verrosteter Kahn. Im Maschinenraum hat der Maschinist alle Luken geöffnet, um nicht in den Dieselschwaden zu ersticken. Gleich nebenan liegt ein dunkler, nur von einer nackten Glühbirne beleuchteter Raum: die Kombüse, in der riesige Schüsseln mit Weißkohl und Tofu auf dem Tisch stehen, auf dem Fußboden schwarzes Wasser und kleine Ölpfützen. Als ich an den Bug zurückkehre, haben sich hier inzwischen noch andere Passagiere eingefunden. Sie beäugen mich misstrauisch aus den Augenwinkeln und machen mir an der Reling nur widerwillig Platz. Keiner spricht mit mir, keiner will wissen, woher ich komme. Ich höre auch kein einziges «Hello».
    Ich starre also wieder auf den Jangtse, auf dessen Wasseroberfläche jetzt immer dickere Regentropfen prasseln. Der See aber wird langsam wieder schmaler und ist bald nur noch so breit wie ein großer Fluss. Auf beiden Seiten steigen steile Felswände auf; die Berge, zu denen sie gehören, sind so

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