Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
zehn Tagen. Alles geht so schnell, dass wir Yichang sogar noch eine halbe Stunde vor dem Garfield-Ende erreichen. So erfahre ich nicht einmal, ob am Ende doch noch alles gut wird oder nicht.
The horror! The horror!
Hier werfen wir einen tiefen Blick ins Herz der Finsternis, derweil der Held einen großen Fluss hinauffährt und mit Ungeziefer parliert. Dann: Colonel Kurtz, Hello-Kitty-Katzen, Teddybärgardinen oder einfach: China nach dem Untergang.
Zurück in Yichang muss ich eine wichtige Entscheidung treffen. Soll ich der 318 weiter folgen, oder fahre ich parallel zu ihr mit einem Schiff den Jangtse-Stausee hinauf, rund hundert Kilometer weiter nördlich? Für die 318 spricht, dass es die 318 ist. Die Straße, die ich vom Anfang bis zum Ende befahren will. Andererseits bin ich in letzter Zeit mit der Abenteuerdichte nicht mehr so ganz zufrieden. Auf den Busfahrten war seit Yingshan nichts mehr los. Ich saß gelangweilt in modernen, klimatisierten Kisten, kein einziger Laowaiforscher in meiner Nähe, sondern nur noch stumme und wohlerzogene Passagiere.
Das würde auf einer Jangtse-Fähre sicher anders sein. Vor meiner Abfahrt hatte ich den schönen, in Venedig preisgekrönten Film «San Xia Hao Ren» – «Die guten Menschen von den drei Schluchten» – des Regisseurs Jia Zhang-ke gesehen. Der Film spielt in Fengjie, einer über zweitausenddreihundert Jahre alten Stadt, die als erste von hundertfünfzig Jangtse-Städten abgerissen werden musste, um den Grund für den zukünftigen See zu bereinigen. Der Regisseur zeigt das große Zerstörungswerk, aber auch immer wieder Jangtse-Schiffe, auf denen es von lustigen, interessanten Leuten wimmelt, die obenrum alle nur Unterhemden tragen, wenn überhaupt. Außerdem wäre das meine letzte Chance, die weltberühmten Schluchten noch im halbgefluteten Zustand zu sehen, bevor 2009 der Wasserspiegel im Stausee endgültig von jetzt hundertsechsundfünfzig auf hundertfünfundsiebzig Meter angehoben wird.
Den Ausschlag für meine Entscheidung gibt schließlich ein Interview mit Jia Zhang-ke, das ich im Internet gelesen habe. Jia berichtet hier, er habe in Fengjie bei den Dreharbeiten zu seinem Film ganz besondere Freiheiten gehabt. Während der Abrissarbeiten hätten sich noch nicht einmal mehr Polizisten in die Stadt getraut, «weil», so Jia, «es dort Malaria, Seuchen und sehr gefährliche Verbrecher gab». Zwar wurde der Film vor einem Jahr gedreht, und der Wasserspiegel ist inzwischen gestiegen, doch Seuchen und Verbrecher werden ja nicht über Nacht verschwunden sein. Eine demolierte Stadt, Malaria und Gangster: Das riecht nach richtig großem Abenteuer.
Also vergesse ich die 318 fürs Erste und kaufe mir am Yichanger Fährhafen ein Ticket zweiter Klasse direkt nach Fengjie. Natürlich nehme ich die Standardfähre. Als ich vor der Schalterhalle sicherheitshalber das Ticket noch einmal auf mögliche Fehler kontrolliere, schauen mir zwei Männer über die Schulter. «Warum», fragt einer erstaunt, «hast du denn keinen Fahrschein für ein Touristenboot gekauft? Diese Boote sind doch viel besser.» – «Weil ich Chinese werden will, du Eimer», will ich sagen, doch weil ich nicht weiß, was Eimer heißt, lasse ich’s bleiben.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, meine große Jangtse-Expedition systematisch vorzubereiten. Das heißt vor allem, mich im Supermarkt mit Proviant einzudecken. Ich kaufe nur das Unentbehrliche: ein Viertelpfund Reiscracker, eine Packung koreanische Marshmallowcreme-Küchlein, eine Tüte Beef Jerky, Rindfleischbonbons, dazu in Plastik eingeschweißte Pilze, die wie Teer aussehen, mehrere Dosen Tsingtao-Bier, zwei Dosen von dem aus der Fernsehwerbung bekannten Wong-Lo-Kat-Kräutertee, zwei Pfund kleine, süße Brötchen, zwei Unterhosen der Marke Lenzing Modal und eine einzelne Hühnerkralle zum Knabbern für nur neunundneunzig Fen. Ich denke, das dürfte für zwölf Stunden auf dem Jangtse reichen.
Am nächsten Vormittag finde ich mich und meine Vorräte in einer riesigen Halle wieder, umgeben von rund tausend Chinesen, die ähnliche Verpflegungssäcke mit sich schleppen. Von Yichang aus hat mich ein Bus hierher gebracht. Ich war erst etwas irritiert, als der am Fährhafen vorfuhr; schließlich wollte ich Boot fahren. Später begriff ich, dass die Jangtse-Fähren, die die Einheimischen benutzen, auf der anderen Seite des Dammes losfahren. So spart man sich die ganze Schleuserei. Natürlich hat mir das keiner gesagt. Aber ich ärgere mich
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