Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
schlechter Ort. Wahrscheinlich ist es sogar der schlechteste in ganz China. Und diesem Mann gebe ich jetzt zwanzig Kuai, oder er kriegt gar nichts.» Mit diesen Worten will ich dem Fahrer einen Zwanziger überreichen, doch er weigert sich noch immer. Also drehe ich mich um und gehe los. Der Fahrer steht zuerst wie angewurzelt da, dann beginnt er, hinter mir herzurennen. «Gut. Bleib stehen. Ich nehme die zwanzig.» Ich gebe ihm fünfundzwanzig, denn die Summe hatte ich sowieso schon eingeplant. Da sieht mich der Fahrer wieder so freundlich an wie am Anfang. Doch es ist nicht nur Freundlichkeit, die ich in seinem Blick erkenne. Es ist noch etwas anderes. Es muss so etwas wie Anerkennung sein, für mich und mein Verhandlungsgeschick. So gut es eben geht, versuche ich, den Blick zurückzugeben.
Nach diesem Glossolalie-Erlebnis ist die Zeit leider zu knapp, um noch den Mauerpark zu besuchen. Also fahre ich am nächsten Morgen noch einmal zum Damm. Damit ich aber auch wirklich bis zur Mauer komme, habe ich dieses Mal eine Tour gebucht. Tatsächlich klappt so alles viel besser. Ich werde aus dem Hotel abgeholt, in einem guten Bus, in dem «Garfield 2» läuft. Der Film ist gar nicht so übel, wie ich immer angenommen hatte. Es ist eine Art Verwechslungskomödie, der echte Garfield tauscht seinen Platz mit einem … Äh, wo war ich? Ach so, schlecht ist heute nur das Wetter. Es regiert wieder mal der Dunst.
Der Staumauerpark ist allerdings die zweite Anreise nicht unbedingt wert. Es gibt zwar einiges zu sehen: eine Skulptur aus drei Meter hohen Reifen, ein Amphitheater, das von Baukränen umstanden ist, eine per Elektromotor animierte Bronzeskulptur eines Schweißers und eine alte Jangtse-Dschunke, aufgebockt auf dem Ecological Performance Square. Doch unsere Gruppe hat nur eine halbe Stunde Zeit, um durch den Park zu hetzen. Außerdem will sich auch hier partout nicht das Gefühl von bedrohlicher Imposanz einstellen, obwohl ich doch jetzt zu Füßen des Betonwalls stehe, allerdings recht weit entfernt.
Etwas näher komme ich dem Damm an der nächsten Tourstation, dem Tanziling-Hügel. Außerdem ist er von hier aus gut im Profil zu überblicken. Auf dem Hügel liegt auch ein drei Meter hohes, aufgeschlagenes Buch, offenbar die Damm-Bibel, wie vom Himmel gefallen. Auf ihren Bronzeseiten kann man das Wichtigste über den Damm nachlesen, auch in Englisch. So erfahre ich, dass das Reservoir hinter der Mauer mehr als sechzig Milliarden Kubikmeter Wasser speichern kann. Das sind mehr als hundert Bodenseen. Die sechsundzwanzig Turbinen werden jährlich 84,7 Terawatt Strom erzeugen, wenn der Damm im Jahre 2009 komplett fertig ist. Schon jetzt entspricht die erzeugte Energie derjenigen, die bei der Verbrennung von fünfzig Millionen Tonnen Kohle gewonnen würde, was wahrscheinlich eine Menge ist. Mehr als diese Monsterzahlen begeistert mich jedoch die chinesische Pedanterie bei allen Angaben. Die Staumauer soll genau 2309 Meter und 47 Zentimeter lang sein. Und was ist, wenn’s mal wärmer wird und sich der Beton ausdehnt? Ich würde gerne nachmessen, aber leider ist das Betreten der Deichkrone verboten. Mir bleibt nur der Blick auf den Damm und die Schleusen. Von hier oben sieht es so aus, als sei der gesamte Beton der Welt verbaut worden. Tatsächlich waren es nur 27,94 Millionen Kubikmeter plus 463 000 Tonnen im Beton eingelassener Stahl. Das aber sollte reichen. Für mich gibt es zumindest keinen Zweifel: Dieser Damm ist sicher, und er wird noch stehen, wenn kein anderes von Menschenhand geschaffenes Bauwerk mehr auf diesem Planeten existiert, die Chinesische Mauer eingeschlossen.
Der Damm hat nur ein kleineres Problem: Er sieht nicht gut aus. Das weiß auch wenigstens ein Chinese. Ein dynamischer Fotounternehmer nämlich, der unweit der Dammkrone zwei Fototapeten aufgebaut hat, die den Damm einmal aus der vorteilhafteren Vogelperspektive zeigen, das andere Mal mit zehn Fontänen, die aus den Überlaufschleusen spritzen. «Take a background picture (2 Yuan once)», hat der Mann daneben auf ein Schild geschrieben, wohl wissend, dass jeder, der zu Hause mit dem Damm angeben will, die Tapete nimmt und nicht das Original. Ich würde hier gerne noch ein Foto von mir machen lassen, doch dafür ist keine Zeit. Der Bus fährt schon um halb elf zurück nach Yichang. Das heißt, der ganze Jahrtausenddamm wurde in gerade mal zwei Stunden abgefrühstückt. Das ist das Tempo, in dem die Chinesen auch Europa machen, zwölf Länder in
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