Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
erleichtert. Auf ihrem Tablett hat sie eine Flasche polnischen Wyborowa-Zitronenwodka und zehn Flaschen eines chinesischen Energydrinks. Victor und Levis mischen das Zuckerwasser mit dem Zitronenzeugs im Verhältnis 20 : 1, verteilen die Gläser, und wir stoßen an. Ich schmecke nicht die Spur von Alkohol. Mir wird nur heißer, weil sich der Laden langsam füllt, hauptsächlich mit eine Spur zu aufgedonnerten Damen. Doch auf die kann ich mich nicht konzentrieren, weil mich Rentboy immer noch in Beschlag nimmt und weiter über «Trainspotting» doziert. «Weißt du, worum es in dem Film geht?», fragt er mich. «Ich denke, um Heroin, oder?» – «Falsch: Verantwortung. Am Ende von ‹Trainspotting› will Rentboy Verantwortung übernehmen. Und das will auch ich.»
Ich begreife nicht, was mit Rentboy los ist. Er muss seit unserem letzten Treffen vorübergehend von Aliens entführt worden sein, die seine Festplatte komplett gelöscht haben. Dann haben sie sich einen Spaß daraus gemacht, sie mit den genau entgegengesetzten Überzeugungen zu überspielen. Vor ein paar Tagen wollte Rentboy noch als Künstler in Wien wohnen und gab mit seinen laufend wechselnden Frauenbekanntschaften an. Heute verdammt er die Künstlerexistenz und lobt die Ehe: «Es gibt zu viele brotlose Künstler in China. Ich will Innenarchitekt werden und ein Vermögen damit machen.» Vielleicht tritt eine solche Persönlichkeitsveränderung ja ein, wenn man zu viel Penis isst?
Als Rentboy seinen Vortrag beendet hat, ist das SoHo brechend voll. Um alle Stehtische lungern jetzt kleine Gruppen wie die unsere herum, und auf allen Tischen steht eine Flasche Schnaps, dazu ganze Batterien von Energydrinks. Die Leute reden und trinken allerdings nur innerhalb ihrer eigenen kleinen Grüppchen, manche spielen auch. Am Nachbartisch geben sich seltsamerweise drei ältere Paare ohne Unterbrechung dem Servietten-Kuss-Spiel hin, bei dem ein Serviettenfetzen, der immer kleiner wird, von Mund zu Mund weitergereicht werden muss. Die Paare sterben dabei fast an ihrem eigenen Gekicher.
An unserem Tisch wird jetzt abwechselnd gewürfelt oder 0 - 5 - 10 gespielt, ein Spiel, bei dem man Koordinationsvermögen und beide Hände braucht und das entfernt an Schere – Stein – Papier erinnert. Ich mag Kneipenspiele nicht, weil ich immer nur verliere, muss aber trotzdem mitmachen. Deshalb bin ich ganz froh, wenn die Jungs alle halbe Stunde einmal aufbrechen, um sich durch die Disco zu quetschen. Dabei sprechen sie an anderen Tischen Frauen an, kommen aber regelmäßig mit gesenktem Kopf zurück. «Was haben die Mädchen gesagt?», frage ich Victor. «Dass wir Loser sind und abhauen sollen.» Sollte diese Form der Kontaktanbahnung zwischen den Geschlechtern in China gang und gäbe werden, dann kann sich die Regierung ihre Ein-Kind-Politik zukünftig sparen.
Wirklich verblüfft bin ich, dass es die Leute in dieser vollgequetschten Disco ohne Tanzfläche doch noch schaffen zu tanzen. Die Musik, amerikanischer Soul und Hiphop, kommt dabei aus den Lautsprechern von an der Decke hängenden Flachbildschirmen. Stattdessen wird der Stehtisch in der Mitte angetanzt, von manchen sogar auf den Barhockern sitzend. Auch die Jungs tanzen so und machen dabei mit den Armen verhaltene Hiphop-Moves, die sie sich vermutlich aus Videos abgeguckt haben. Rentboy und Levis fordern mich ständig auf, es ihnen gleichzutun. «Sheik your baadie», sagt Rentboy alle fünf Minuten und schlackert vor mir mit seinen Armen. «Sheik your baadie.» Ich aber habe keine Lust. Ich denke, dass es bescheuert aussieht, wenn ein Mann in meinem Alter versucht, sich wie ein junger schwarzer Amerikaner zu bewegen. Außerdem bin ich erst in Tanzlaune, wenn ich wenigstens etwas betrunken bin. Davon kann nicht die Rede sein. Auch nach dem fünften oder sechsten Zitronenwodka-Energy-Glas bin ich stocknüchtern. Langsam muss ich mal überlegen, wie ich hier wieder rauskomme, ohne meine neuen Freunde vor den Kopf zu stoßen.
Ich denke darüber auch nach einer Stunde noch nach, als überraschend die Flachbildschirme ausgeschaltet werden und ein kompakter, kleiner Mann mit Kastenbrille auftritt. Kastenbrillenmann, das weiß ich aus dem chinesischen Fernsehen, bedeutet große Gefahr. Und tatsächlich beginnt die Brille sofort chinesische Schlager und Rockmusik in sein Funkmikro zu schmettern. Dabei mischt sie sich in Ermangelung einer Bühne direkt unters Publikum und wechselt bei jedem neuen Stück von einer Ecke der Disco
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