Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
verkauft. «Meine Nudeln kosten zwei Kuai, egal für wen», gibt die Frau ungerührt zurück. Sehr angenehm ist auch, dass die Stadt fast autofrei ist. Stattdessen wimmelt es von Fahrradrikschas, deren Fahrer die ganze Stadt mit Radlaufklingeln bebimmeln.
Trotzdem kann ich unmöglich länger bleiben, denn es regnet weiter wie bescheuert. Und es kann gut sein, dass auch diese niedrig gelegene Stadt in den nächsten Tagen in den Fluten versinkt, so wie schon viele Städte im Osten. Am Nachmittag des zweiten Tages ist der Fluss, der bei meiner Ankunft noch ein stinkendes, fast stehendes Gewässer war, schon ein reißender Strom. Müll, dicke Äste und Inseln aus Lotosblumen, die das Wasser weiter flussaufwärts losgerissen hat, schwimmen jetzt darin. Deshalb fährt mich auch gleich am nächsten Morgen ein Bus durch eine saftig grüne Hügellandschaft voller angeschwollener Bäche über die Grenze in die Provinz Sichuan.
Das hat letztlich kaum etwas zu bedeuten, denn schließlich bin ich schon seit Fengjie auf klassischem Sichuaner Boden. Auch die Stadt Lezhi, in der ich aus dem Bus steige, ist keine sonderlich wichtige Stadt. Ich mache nur halt, weil sich genau hier die Nationalstraße 319, die von Chongqing kommt, mit der aus dem Nordosten herabstoßenden 318 zu einer Straße vereinigt, die weiter die Nummer 318 trägt.
Ich will in Lezhi einfach sehen, wie weit die Straße ohne mich vorangekommen ist, und dann gleich am nächsten Tag weiterfahren, Richtung Sichuans Hauptstadt Chengdu. Deshalb und weil die Sonne wieder scheint, mache ich mich sofort nach meiner Ankunft zum Stadtrand auf, um einen Kilometerstein der 318 zu finden. In der Vorstadt stoße ich auf einen gewaltigen, mit Platten belegten Platz, der so groß ist, dass man bequem ein ganzes deutsches Dorf darauf bauen könnte. Die Chinesen sind Platz-Fetischisten; der «Tian An Men»-Platz in Peking ist zum Beispiel der größte innerstädtische Platz der Welt. Angelegt wurde er wahrscheinlich, damit wir Pekinger wenigstens an einer Stelle das Gefühl großer Weite und relativer Leere empfinden können. Aber es werden auch dort Plätze geschaffen, wo sie garantiert niemals benötigt werden. So dürften alle großen Plätze Chinas zusammengelegt inzwischen eine Fläche bedecken, die so groß ist wie die Schweiz.
Der Platz hier markiert zum Beispiel bloß das Zusammentreffen der beiden Nationalstraßen. Die 319 löst sich in den Platz mündend auf magische Weise auf, während die 318 ihn nur tangiert und dann weiter nach Chengdu führt, das nur fünfzig Kilometer entfernt liegt. Der Anfang dieses Straßenabschnittes ist zu einem prächtigen sechsspurigen Boulevard ausgebaut worden, der am Ortsausgang endet. Dort finde ich auch den gesuchten Kilometerstein. Es ist der erste seit Jingzhou, doch dieses Mal steht er kerzengerade und zeigt 2343 Kilometer an. Hey, das sind schon dreihundert Kilometer mehr als die Luftlinienentfernung zwischen Berlin und Ankara. Allerdings habe ich ungefähr die Strecke Berlin – Kairo noch vor mir.
Der Kilometerstein ist praktisch die einzige Sehenswürdigkeit in der Stadt, außer zweieinhalb Reiterstandbildern und einem kleinen Museum, das dem ehemaligen chinesischen Außenminister und ersten kommunistischen Bürgermeister von Shanghai, Chen Yi, gewidmet ist, dem «größten Sohn der Stadt». Die Attraktion ist hier, so finde ich zumindest, ein Foto, das Chen Yi zusammen mit Zhou Enlai und Che Guevara zeigt. Das Foto wurde 1960 in Peking aufgenommen, also im selben Jahr wie das berühmte Porträt von Alberto Korda, das zur Ikone wurde. Doch in China blickt Che nicht jesusmäßig entrückt in eine imaginäre Zukunft, sondern eher quietschfidel in die Kamera, seine Uniform spannt sichtlich über dem Bauch. Auf keinen Fall würde sich auch nur ein einziger Jugendlicher der Welt diesen Moppel auf sein T-Shirt drucken lassen.
Die allergrößte Attraktion von Lezhi aber sind seine Bürger. Natürlich wird in diesem Provinznest viel gehellot, aber es klingt irgendwie netter als sonst. Mir scheinen die Leute auch mehr zu lächeln. Offenbar haben sich die Bewohner hier vorgenommen, sogar die freundlichen Leute von Dazu zu toppen. Als ich am Nachmittag in einem kleinen Nudelrestaurant bezahlen will, schüttelt die Besitzerin energisch mit dem Kopf. «Du bist der erste Ausländer in meinem Laden», sagt sie, «von dir nehme ich kein Geld.» Ich bin so verblüfft, dass ich mich ohne Protest füge. Aber was ist hier los? Bin ich seit der
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