Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
in die andere. Jetzt sollte ich wirklich gehen. Ich verabschiede mich hastig von meinen Freunden: «Tut mir leid. Ich muss morgen weiter und deshalb früh raus.» Mein so plötzlich angekündigter Abgang wird sofort akzeptiert – ohne ein Wort des Bedauerns. «Gut. Bye, bye. Zai jian.» Ein chinesischer Abschied eben.
Draußen trinke ich an einem Garküchenstand erst einmal ein paar Flaschen Bier und lasse dabei den Abend kurz Revue passieren. Wenn es stimmt, dass China die Zukunft ist und Chongqing Chinas Zukunftsstadt, dann muss die Disco der Zukunft wie das SoHo aussehen: wie ein großer, proppenvoller Kindergeburtstag, auf dem allerdings geraucht werden darf. Will ich tatsächlich meinen Lebensabend so verbringen?
Die guten Menschen von Sichuan
Tornados, Taifune und tonnenweise Regen jagen unseren heldenhaften Helden. Dafür darf er umsonst essen und trinken und lernt die Bosse Chinas kennen. Che Guevara hat einen Cameo-Auftritt.
Als ich nach einer Woche Chongqing City endlich wieder im Bus sitze, atme ich tief durch. In den letzten Tagen habe ich mir immer wieder Sorgen um das Wetter gemacht. In Chongqing hat es zwar nur einmal kurz geregnet, aber der Jialing war wegen der schweren Regenfälle von Tag zu Tag am Oberlauf immer stärker angeschwollen. Östlich von Chongqing versanken ganze Städte in den Fluten. In der Provinz Anhui hatte es sogar einen Tornado gegeben, was normalerweise in China nicht passiert. Chongqing selbst wird im Moment von den Ausläufern eines Taifuns bedroht, der vor zwei Tagen auf die südchinesische Küste geprallt ist. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich weiter nach Westen komme.
An der Ausfallstraße sehe ich einen Mann, der auf dem Bürgersteig mit der Lötlampe Fische brät, die er offenbar gerade im Jangtse gefangen hat. Solch ein Bild werde ich wahrscheinlich so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen, denn kurz darauf muss ich Abschied von dem Fluss nehmen. Der Jangtse hat mich auf dieser Reise praktisch die ganze Zeit begleitet, wenn auch zu Anfang in etwas größerer Distanz. Ich werfe noch einen letzten Blick auf das braune Wasser, dann verschwindet der Bus in einem Tunnel, und der Fluss ist weg. Wenn alles gut geht, werde ich ihn rund tausend Kilometer weiter westlich noch einmal wiedersehen, wo er unter einem anderen Namen die Grenze zu Tibet bildet.
Ich fahre jetzt auf dem kürzesten Weg zurück zur 318. Vorher muss ich allerdings Station in der Stadt Dazu machen. Hier gibt es über tausend Jahre alte, buddhistisch und daoistisch inspirierte Felsskulpturen zu sehen, die 1999 zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Da kann ich mich schlecht drücken, auch wenn solche Heiligtümer seit Fengdu wegen Halluzinationsgefahr eigentlich auf meiner schwarzen Liste stehen.
Tatsächlich hätte ich Dazu besser ausgelassen. Kaum besichtige ich nämlich brav die Skulpturenschlucht hoch auf dem Baoding-Berg, holt mich der Regen ein. Es gießt aus gewaltigen Tonnen, in die jemand pfenniggroße Löcher gebohrt hat, und es hört einfach nicht mehr auf. Für zwei Stunden bin ich unter einem Felsvorsprung von einem Wasserfall eingeschlossen. So habe ich viel Zeit, die Skulpturen um mich herum zu betrachten. Sie wirken wie ein großer, bunter, in Stein gehauener Comicstrip. In der Nische direkt über mir ist ein Maitreya-Buddha aus dem Fels herausgemeißelt worden. Lachend hält er einen Affen in der Hand. Nach dem chinesischen Horoskop bin ich ein Affe, der Maitreya-Buddha aber ist der Buddha der Zukunft. Hält der mich im Regen gefangen, hat das für meine Weiterreise vermutlich nichts Gutes zu bedeuten.
Die Menschen in der kleinen Stadt lassen mich meine dunklen Ahnungen sofort wieder vergessen. Sie begegnen mir sehr freundlich und behandeln mich ungewohnt korrekt. Der Buchhändler im Servicedorf des Skulpturentals lässt mich nicht aufrunden, sondern besteht darauf, mir zwei Jiao Wechselgeld wiederzugeben, umgerechnet zwei Cent. Wahrscheinlich ist der Mann ein überzeugter Kommunist. In seinem Laden hängt jedenfalls immer noch die klassische Porträtreihe: Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao, ganz so wie anno dunnemals im Bielefelder Roten Buchlädchen. Auch die anderen Leute verblüffen mich mit ihrer Ehrlichkeit. Sie hauen mich sogar dann nicht übers Ohr, wenn sie dazu aufgefordert werden. «Das ist ein Ausländer. Du musst mindestens vier Kuai verlangen!», ruft eine Gemüsehändlerin der Frau zu, die mir gerade auf der Straße eine Portion scharfer Nudeln für zwei Kuai
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