Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
rechts ab auf eine lange Brücke. Sie führt über den Jinsha. Übersetzt heißt das goldener Sand, und den Namen hat der Fluss wegen seiner gelben Farbe. Ich freue mich, den Fluss zu sehen, denn er ist eine alte Reisebekanntschaft, von der ich kurz hinter Chongqing das letzte Mal Abschied nahm. Weiter flussabwärts ändert der Jinsha nämlich seinen Namen in Chang Jiang oder Jangtse. In der Mitte der Brücke fliegt ein blaues Schild an uns vorbei, auf dem etwas in Tibetisch und Chinesisch steht. Ich kann natürlich beides nicht lesen, doch es muss Autonome Region Tibet heißen, weil der Jinsha die Grenze zwischen Sichuan und Tibet bildet. Yippieh, nach mehr als zwei Monaten Ungewissheit habe ich es geschafft. Ich bin in Tibet!
Dabei wollte ich, wenn ich ehrlich bin, eigentlich nie in meinem Leben hierher, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Die westliche Begeisterung für diese Region der Erde und ihre Bewohner war mir eigentlich immer sehr fremd. Die Tibetfotos, die ich kenne, zeigten meistens eine karge Mondlandschaft, durch die vielleicht noch ein paar rotgewandete Mönche liefen. Nicht unbedingt mein Ding. Auch den im Westen so beliebten und von einigen Tibetern immer noch hochverehrten Dalai Lama kann ich nicht sonderlich leiden. Er mag ja heute andere Positionen vertreten. Doch das Tibet, an dessen Spitze er bis zum Einmarsch der Chinesen stand, war ein feudaler Staat, in dem der Klerus und der Adel die einfachen Tibeter ausplünderten wie bei uns die absolutistischen Fürsten im Mittelalter. Tibet war auch ganz und gar kein friedliches Land, wie man im Westen gerne glaubt, ohne etwas Genaueres zu wissen. Mord und Totschlag regierten, selbst etliche der bisherigen Dalai Lamas wurden nicht alt. Allein fünf der zwölf, die es seit Verleihung des Titels durch den mongolischen Khan im Jahr 1578 gegeben hat, wurden bei politischen Intrigen von den eigenen Leuten umgebracht.
Suspekt ist mir der aktuelle, der 14. Dalai Lama – die ersten beiden kamen posthum zu diesem Titel –, und zwar unter anderem wegen der vielen merkwürdigen Freunde, die er im Westen hat. Dabei sind mir die Heerscharen ahnungsloser Schauspieler und Popmusiker noch relativ egal. Aber wer in Deutschland einen Politiker zum besten Freund hat, der ansonsten Ausländer am liebsten sieht, wenn sie wieder gehen, und der sich von der Bild-Zeitung mit einem «Osgar» genannten Medienpreis auszeichnen lässt, der kann kein richtig guter Mensch sein.
Der entscheidende Grund dafür, dass ich diesen Mann ablehne, ist seine Haltung den Chinesen gegenüber und das Vokabular, das er gebraucht. Zwar ist unbestreitbar, dass den Tibetern im Laufe der Geschichte von chinesischer Seite Unrecht widerfahren ist, aber das einen «Holocaust» zu nennen, wie es der Dalai Lama zum Beispiel in einer Rede 1987 vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses tat, ist mehr als nur Geschichtsklitterung. In dieser Rede präsentierte der Dalai Lama übrigens auch seinen bis heute aktuellen und im Westen hochgelobten «Fünf-Punkte-Friedensplan» für Tibet. Dabei sprach er unter anderem davon, China betreibe die «Endlösung des tibetischen Problems» durch Ansiedlung von Han-Chinesen in der Region. Punkt zwei seines «Friedensplans» beinhaltet deshalb nicht nur die Forderung, die chinesische Besiedelung zu stoppen, sondern die in Tibet und in den sonstigen tibetischen Siedlungsgebieten Chinas lebenden Chinesen wieder dorthin zu schicken, wo sie einst hergekommen sind. Letztlich fordert der Dalai Lama also nichts anderes als ein ethnisch bereinigtes Tibet, in dem die «tibetische Rasse» (so der Dalai Lama in einer Rede am 27. März 2006 im indischen Dharamsala) machen kann, was sie will. Weil mir aber alle ethnisch motivierten Nationalisten zuwider sind, kann ich damit natürlich nicht einverstanden sein.
Dass ich trotz dieses ganzen Bündels an Aversionen gegen den Mann, der sich für das Staatsoberhaupt aller Tibeter hält, jetzt dennoch in Tibet bin, liegt sicher nicht nur daran, dass die 318 eben auch durch Tibet führt. Selbst Paul Theroux’ schöner Satz: «Man muss Tibet sehen, um die Chinesen zu verstehen» spielt für meine Entscheidung nicht die wichtigste Rolle. Nein, am meisten hat mich wohl gereizt, dass es so schwierig ist, in diese Ecke der Welt zu kommen. Alexandra David-Néel, der ersten Europäerin, die 1924, als Mann verkleidet, die damals von den Engländern gesperrte Stadt Lhasa erreichte, ging es ähnlich: «Was mich dazu brachte, nach Lhasa
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