Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
verwirrend.
»Was möchten Sie trinken?« fragt er mich. »Geht auf mich.«
Nicht weit von uns parkt ein Lastwagen, auf dem das Logo des Staatstheaters Nürnberg zu sehen ist sowie das Bild einer Frau, die sich selbst mit einem Messer ersticht; Blut rinnt über ihr weißes Kleid. In anderen Teilen der Welt könnte dieses Bild als Zeichen für die örtliche Nervenklinik stehen. Hier steht es für die Einwohner, die normalen Leute.
Ich gehe zum Bahnhof und nehme den nächsten Zug aus der Stadt heraus.
Im Bahnhof Lichtenfels legt der Zug eine längere Pause ein. Ich steige für ein paar Minuten aus und schaue mich um. Überall Graffiti. »Multikulti nein danke.« »Frei, sozial und national.«
Wohin fahre ich?
Zu einem Turnfest in Coburg, auf Schloß Ehrenburg. Dort wird der 150. Geburtstag des Deutschen Turnvereins gefeiert, habe ich gehört. Ich habe keine Ahnung, was das ist, werde es aber hoffentlich herausfinden.
Christof, ein Mann, der wahrlich meinen Respekt und mein Vertrauen genießt, hatte erzählt, daß es sich bei dem Turnfest um einen Gymnastikwettbewerb handelt. Das klang für mich so bizarr, daß ich dachte: Nichts wie hin. Von einem Gymnastikwettbewerb habe ich noch nie gehört. Fußball, klar. Fußball verstehe ich: Du hißt die deutsche Fahne und fühlst dich gut. Aber ein Gymnastikwettbewerb? Klingt eigentlich gut. Ich bin seit Jahren in keinem Fitneßcenter mehr gewesen und habe diesbezüglich Schuldgefühle. Vielleicht, so sagte ichmir, würde ich mich besser fühlen, wenn ich einen Gymnastikwettbewerb besuche. Ich würde ein paar Stunden in Coburg verbringen, Leuten bei ihren Liegestützen zusehen und meine Schuldgefühle überwinden.
Aber niemand hatte mir gesagt, daß es dabei auch etwas zu essen geben würde! Als ich dort eintreffe, sehe ich als allererstes Sandwiches, Berge von Sandwiches, köstlichste Sandwiches, die mich anzulächeln scheinen und mich um Aufnahme in meinen Mund ersuchen.
Und niemand, aber auch wirklich niemand hatte mir gesagt, daß obendrein zwei Stunden lang Reden gehalten würden. Ich dachte, bei einem Turnfest geht es um Liegestütze. Bedeutet Liegestütz in Deutschland Ansprache ?
Eine Sportprofessorin spricht. Eine Sportprofessorin? Was werden meine Deutschen als nächstes erfinden, einen Fußballdoktor?
Ich bin so verblüfft, daß ich einfach weiteresse. Ich nehme fünf bis sieben Kilo zu. Ist bitte eine Gewichtsprofessorin in der Nähe?
Bevor ich mich in einen Elefanten verwandle, schnappe ich mir einen Mann, der mir erklären kann, wo ich bin. Es ist Dr. Reinhard H. Ganten, vormals Jurist im deutschen Justizministerium, heute Präsident des Akademischen Turnbunds.
Als er meinen Notruf vernimmt, erklärt sich der Doktor sofort bereit, mir die Idee des Turnvereins und dieses ganze Turnding zu erklären. »Sport ist ein Wettkampf«, sagt er. »Beim Turnen hingegen geht es um kontrollierte Körperbewegungen.«
Er ist 70 Jahre alt und »geistig völlig fit, weil, nun, ich glaube, das liegt daran, daß ich immer Sport getrieben habe, seit ich drei oder vier Jahre alt war«.
Ist das etwas speziell Deutsches? frage ich ihn und beiße in eine deutsche Salami.
»Verschiedene Sportarten gleichzeitig auszuüben, um die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen und zu wissen, welche Muskeln man gebrauchen muß, ich glaube, das ist deutsch.«
Tage- und nächtelang habe ich mir kaum Schlaf gegönnt, dieweil ich über ebendiese Frage grübelte: Was ist deutsch? Und dieser Mann kennt die genaue Antwort seit 70 Jahren!
Das ist aber noch längst nicht alles:
»Das Turnfest, das erste vor 150 Jahren, trug dazu bei, diese Nation zu schaffen. Der Herzog von Coburg erlaubte es Teilnehmern aus den verschiedensten Landstrichen, zum Turnfest in seinem Herzogtum zusammenzukommen, etwas, das andere Könige und Herzöge in den von ihnen kontrollierten Gebieten nicht zuließen. Das schuf ein Gefühl der Einheit unter den Menschen, den Menschen, die später Deutschland bilden sollten. Tatsächlich rief ihr Gründer, Friedrich Ludwig Jahn, die Turnbewegung ins Leben, um die Menschen für den Kampf gegen ausländische Besatzer und die Verteidigung ihres Heimatlands zu ertüchtigen. Heute gibt es über 20 000 Vereine im Deutschen Turnerbund, mit insgesamt fünf Millionen Mitgliedern.«
Gelobt sei Jahn. Ja, ich weiß, das ist der Typ, der einst schrieb, daß die Juden, neben anderen, »Deutschlands Unglück« seien. Aber dieses Thema werde ich nicht ansprechen. Dies soll
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