Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
halbgeschlossen. Sie sagt nichts, was ich als Zustimmung deute, und so schließe ich das Fenster halb. Anderthalb Minuten später nähert sich eine andere deutsche Dame. Diese hier scheintin ihren frühen Zwanzigern zu sein, fit und gesund, schön und athletisch. Sie möchte, daß ich das Fenster schließe, denn »es ist zu kalt«. Wo kommt sie her, aus der Sahara? Heute ist einer der heißesten Tage des Jahres. Was stimmt nicht mit ihr? Sie verlangt, daß ich mich ihrem Befehl beuge.
Ich versuche es wieder mit der 50-Prozent-Formel. Sie dreht sich um und geht, wortlos. Ich schiebe das Fenster hoch. Jetzt steht es nur noch zu einem Viertel offen. Man sollte meinen, daß jetzt alle zufrieden sind. Pustekuchen!
Ein älterer Herr, vielleicht Mitte 60, tritt an mich heran. »Warum tun Sie das?« fragt er mit erhobener Stimme.
Lebensraum , antworte ich ihm.
Von da an ist die Fahrt friedlich.
Wenn je der Dritte Weltkrieg ausbrechen sollte, dann in einem deutschen Regionalzug. An einem herrlichen Sommertag, auf der Fahrt von Nürnberg nach Tübingen. Wegen eines Fensters.
Irgendwo zwischen Nürnberg und Stuttgart besteigen ganze Gruppen den Zug. Eine Gruppe hier, eine Gruppe da. Junge Trinker zumeist. Ich schaue sie mir genau an und lege mir sorgfältig meine Kriegsstrategie für den Fall zurecht, daß sie mich wegen meines zu einem Viertel geöffneten Fensters angreifen. Etwas ist seltsam an diesen Leuten, obwohl ich nicht genau sagen kann, was. Ich habe nicht den Eindruck, daß ich es hier mit einer Ansammlung von Individuen zu tun habe; sie wirken eher wie eine Einheit mit ihrer eigenen Energie und ihren eigenen Regeln, einer Schafherde oder einer Vogelschar gleich. Hier ist eine Gruppe von Männern in schwarzen T-Shirts auf dem Weg zu einem Konzert; dort eine weitere, auch sie allesamt junge Männer, die eine volle Stunde lang über »Titten« diskutieren und dabei ein Bier nach dem anderen trinken.
Diese Menschen, die Deutschen, meine Deutschen, erkenne ich auf einmal, sind Gruppenmenschen. Extreme Gruppenmenschen. Seltsam, die jungen trinkenden Wesen in diesem Zug verschaffen mir Einblick in eine Welt, die ich nun seit geraumer Zeit zu verstehen versuche: die Welt des Deutschen. Natürlich, wieso bin ich nicht früher darauf gekommen: Es ist das Vereins ding! Sie sind »Gruppenmenschen«, die Deutschen. Sie klammern sich aneinander, denken miteinander und sind einander. Was auch immer das bedeutet.
Jawohl!
Ob Studenten in München, Gläubige in Kirchen, Intellektuelle, Künstler, Dorfbewohner: Das hier ist ein Vereins land.
Es ist, als hätte sich in meinem Gehirn plötzlich eine Tür geöffnet und mir zum Verständnis vieler Eindrücke auf meiner Reise verholfen. Nämlich: Die Deutschen bewegen sich gemeinsam, gehen gemeinsam, feiern gemeinsam, handeln gemeinsam und denken gemeinsam.
Selbst in der Welt der Medien, die wahrscheinlich eine der Speerspitzen der deutschen Gesellschaft ist, haben sie diese Konferenzen, damit sie gemeinsam denken können.
Vielleicht sollte nicht ein Adler Deutschlands Nationalsymbol sein, sondern ein Lamm. Ich will niemandem zu nahe treten; auch Lämmer sind etwas Feines. Ich mag Lämmer. Wirklich.
Ich bin in Tübingen. Auf Wiedersehen Bayern, hallo Baden-Württemberg.
In Tübingen gibt es eine Kirche – sorry, wenn ich wieder mit Kirchen komme –, die man gut und gerne als philosemitisch bezeichnen könnte. Sie ist unter anderem für das Engagement bekannt, mit dem sie das Andenken an den Holocausthochhält. So besteht eine ihrer Aktivitäten darin, sogenannte Märsche des Lebens an verschiedenen Orten in Deutschland zu organisieren, die an die Todesmärsche erinnern sollen, eine Praxis der Nazis, bei der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs Abertausende von Menschen ums Leben kamen.
Glauben Sie nicht, diese Betonung der Erinnerung an den Holocaust mache die Mitglieder dieser Kirche zu einem traurigen Häuflein. Das Gegenteil ist der Fall, zumindest am heutigen Tag. Sie tanzen und sie singen und bewegen sich fast drei Stunden lang und scheinen weder müde noch erschöpft zu werden. Kein bißchen.
Ja, auch das ist ein Verein .
Vom Stil her ist das hier sehr amerikanisch-evangelikal. Sie hüpfen fröhlich, glücklich-überglücklich auf der Stelle auf und ab, sie schwingen ihre Körper wie Jeschiwaschüler in Israel. Man sieht nicht alle Tage blonde Deutsche, die wie ultraorthodoxe Juden schuckeln. Ein interessanter Anblick. Der Liedtext geht in etwa so: »Today is today, I
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