Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
beide Handflächen. »Ich trinke weder Tee noch Kaffee.«
Ein Gesundheitsapostel also. Auch gut. Hoffentlich war er im Umgang mit Felix nicht allzu spröde.
»Wollen Sie ein Glas Mineralwasser?«
Ernesto schüttelte sich. »Das trinke ich nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.«
Damit war Marie mit ihrem Latein am Ende. Sie führte Ernesto ins Wohnzimmer. Er lümmelte sich auf die Couch. Der Psychologe benahm sich, als sei er zu Besuch bei guten Freunden. Marie wurde unsicher: Ob das der Mann war, der ihr helfen konnte?
»Wenn Sie vielleicht ein Bier hätten?«, fragte er.
Ein Bier? Um diese Zeit? Es war nicht mal Mittag.
Bier hatte sie nicht mehr im Haus, seit Karl in Kundus war.
»Ich könnte Ihnen ein Glas Wein anbieten …«
Ernesto klatschte in die Hände. »Umso besser. Rot oder weiß?«
»Ich glaube … weiß.«
»Gerne.«
Marie ging in die Küche, nahm die Flasche Chardonnay aus dem Kühlschrank, die sie schon vor Wochen gekauft hatte, und entkorkte sie.
»Schön haben Sie’s hier«, sagte Ernesto laut.
Marie nahm ein Weinglas aus dem Schrank, wischte es mit dem Küchentuch aus – sie trank so selten Alkohol, dass sich Staub in den Gläsern sammelte – und schenkte es voll. Als sie mit dem Glas in der Hand ins Wohnzimmer trat, hatte Ernesto die Beine ausgestreckt – jetzt erst bemerkte Marie, dass er blauweiße Laufschuhe trug – und die Hände im Nacken verschränkt.
Sie stellte das Weinglas auf den Tisch.
»Und Sie – trinken Sie nichts?«, fragte er.
»Doch, doch.« Marie ging in die Küche, holte sich auch ein Weinglas aus dem Einbauschrank und ließ es voll mit Leitungswasser laufen.
»Prost«, sagte Ernesto und hob mit durchgedrücktem Rückgrat sein Glas.
»Prost«, sagte auch Marie. Sie tranken.
Ernesto schnalzte mit der Zunge, als er sein Glas abstellte. »Lecker. Ein Grauburgunder, was?«
»Ja«, antwortete Marie. Sie bereute, Ernesto um Hilfe gebeten zu haben. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, es allein mit Felix zu versuchen.
Ernesto machte es sich wieder bequem. »Wie hat der Junge reagiert?«
»Er redet nicht mehr.«
»Überhaupt nicht mehr?«
»Überhaupt nicht mehr.«
»Seit wann denn?«
»Seit ich es ihm gesagt habe.«
»Wie haben Sie es ihm gesagt?«
Marie war diese Fragerei unangenehm. »Na ja, wie man halt so etwas sagt.«
»Jeder macht es anders.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich habe bisher vielen Familien zu helfen versucht. Dabei habe ich mich besonders um die Kinder der toten Soldaten gekümmert. Für die Erwachsenen gibt es Ansprechpartner bei der Bundeswehr.«
Marie konzentrierte sich. »Ich habe ihm gesagt, dass es einen Anschlag gegeben hat und dass sein Vater in einem der Wagen saß, die von der Bombe getroffen worden sind.«
»Haben Sie ihm auch gesagt, dass sein Vater tot ist?«
»Natürlich.«
Ernesto nickte und schaute sein Glas an. Er hätte wohl gerne noch einen Schluck genommen, verbat sich das aber angesichts des ernsten Themas. »Wissen Sie, manche Elternteile haben Angst davor, es auszusprechen. Sie reden um den heißen Brei herum. So wie in unserer Gesellschaft ja immer um den Tod herumgeredet wird …«
»Ich habe ihm gesagt, dass sein Vater tot ist.« Marie klang etwas trotzig.
»Hat er etwas darauf entgegnet?«
»Ja, dass er das für Quatsch hält.«
Das war zu viel für Ernesto. Er musste einen Schluck Wein nehmen. »Das ist allerdings wirklich … ungewöhnlich.«
»Und danach hat er kein Wort mehr gesagt.«
Ernesto blähte seine Nasenflügel auf. »Dann wollen wir uns den jungen Mann mal anschauen.«
Marie ging zur Treppe. »Er ist oben in seinem Zimmer.«
Ernesto erhob sich ächzend. Er trank zur Stärkung noch einmal von dem Wein, bevor er Marie ins obere Stockwerk folgte.
Marie klopfte an die Tür von Felix’ Zimmer.
Drinnen rührte sich nichts. Sie öffnete vorsichtig. Felix saß am Computer und spielte ein Ballerspiel. Marie mochte das nicht. Aber jetzt wollte sie den Jungen deshalb nicht ermahnen.
»Es ist Besuch da …«
Der Anblick Ernestos schien Felix nicht zu überraschen. Dennoch stand er auf, schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür und reichte Ernesto die Hand.
Der Psychologe hatte die weit verbreitete Eigenart, beim Umgang mit Kindern eine andere Stimme anzunehmen. Er sprach plötzlich viel tiefer und langsamer, wie ein Waldgeist oder etwas Ähnliches.
»Du bist also der Felix. Na, und ich bin der Ernesto und komme aus Berlin. Ich dachte, ich rede mal mit dir. Ist das
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