Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
befand sich etwas Grünes. Marie musste genau hinsehen: eine Blume. Eine Plastikblume.
Komisch, aber als sie die grüne Plastikblume so einsam auf dem Campingtisch sah, in einem Wasserglas, kamen ihr die Tränen.
»Hallo, Marie«, sagte Karl mit einer unwirklichen, blechernen Stimme. Er versuchte zu lächeln, aber das Bild sprang ein wenig, so dass sein Gesicht wie mit unsicherer Hand skizziert wirkte.
Marie klickte auf das Pause-Symbol.
Sie betrachtete das Standbild.
Marie erkannte ihren Mann fast nicht wieder.
Karl war immer ein Mann gewesen, der auf ein korrektes Äußeres geachtet hatte.
Für einen Soldaten war das nicht ungewöhnlich. In seinem Beruf wurde das verlangt. Aber die Kameraden Karls hatten dennoch anders ausgesehen als er. Sie trugen ihre Haare kurz, sie pflegten ihre Kleider, sie rasierten sich jeden Morgen. Wenn sie das nicht taten, bekamen sie Ärger mit ihren Vorgesetzten. Auch in der modernen Bundeswehr galten immer noch Gesetze des preußischen Militärs.
Karl hingegen hatte sich nicht nur an die Bestimmungen gehalten. Er hatte immer Wert darauf gelegt, ansprechend auszusehen. Anders konnte Marie das nicht nennen. Karl strengte sich nicht besonders an, er war nicht mal eitel. Er sah einfach immer so aus, dass man ihn gerne angefasst hatte. Das hatte Marie von Anfang an gefallen.
Doch der Karl auf dem Video, der in Kundus vor einer traurigen Plastikblume saß, war ein anderer Mensch.
Karl wirkte verwahrlost. Er hatte sich einen Bart stehen lassen. Kein Bart, der zu ihm passte, keinen gepflegten und gestutzten Bart. Karls Bart war ein dichtes Gestrüpp, dessen Spitzen ungleich und zottelig waren. Auch seine Haare hatte Karl wachsen lassen.
Sein Gesicht war fahl, die Backenknochen traten hervor. Karl hatte mindestens zehn Kilo abgenommen.
Marie erinnerte das Video an Aufnahmen, die Geiselnehmer von ihren verzweifelten Opfern an TV-Sender schickten, um ihre Forderungen zu unterstreichen. Aber Karl Blau war keine Geisel. Er saß in einem sicheren Stützpunkt der Bundeswehr in Kundus.
Marie musste sich zwingen, das Play-Symbol anzuklicken.
Karl schaute an ihr vorbei. Er wirkte fahrig und übermüdet.
»Marie, das ist eine Botschaft für dich. Und natürlich auch für den Jungen. Aber ich bitte dich, ihm die Aufnahme nicht zu zeigen.«
Maries Hand verkrampfte sich um die Maus. Warum sollte sie Felix das Video nicht zeigen? Hatte Karl Todesahnungen gehabt?
Sie hätte sich gerne noch etwas Zeit gegeben und nochmal die Pause-Taste angeklickt. Aber sie ließ es – aus Angst, es später nicht mehr zu schaffen, den Film wieder zu starten.
»Ich denke ständig an euch. Mein Heimweh ist nicht besser geworden. Nachts träume ich von euch. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass es euch gut geht. Alles andere ist zweitrangig.«
Karl machte eine Pause. Er veränderte seine Position auf dem schmalen Stuhl.
Er schien Zeit gewinnen zu wollen.
Dann fuhr er mit einer raueren, tieferen Stimme fort, die nicht zu ihm zu gehören schien. »Der Dienst hier in Kundus, das alles wird immer schwieriger. Marie, ich muss dir sagen, dass ich so nicht mehr weitermachen kann.« Karl schaute unsicher an sich herunter. Diese Verlegenheit, das kannte Marie nicht an ihm. Karl war immer selbstsicher gewesen.
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum es bei mir zu diesem Sinneswandel gekommen ist. Nun – das ist schwer zu erklären.« Er lächelte kurz. »Zumindest, wenn ich einer Kamera gegenüber sitze. Es werden Fehler gemacht. Verstehst du: Fehler, die Menschenleben kosten.«
Marie bemerkte, dass Karl sehr erregt war. Er legte die Hände auf den Rand des Tischchens, was etwas affig aussah – aber er wollte wohl nur verbergen, dass er zitterte.
»Marie, ich liebe dich noch immer und denke unentwegt an dich und den Jungen. Aber das habe ich ja schon gesagt.« Karl schien den Faden verloren zu haben. Doch dann hob er plötzlich den Kopf, schaute fest in die Kamera und löste die Hände von dem Tischchen.
»Ich bin hier in die Hölle geraten. Ich weiß, so etwas sollte ich dir nicht sagen. Aber ich tue das, um dich vorzubereiten. Ich möchte nicht, dass es dich aus heiterem Himmel trifft. Du musst es wissen. Es wird bald etwas geschehen, was du nicht verstehen wirst. Eine schwere Zeit kommt auf uns zu.« Er sprach jetzt schneller, fast gehetzt. Seine Stimme überschlug sich. »Wir müssen stark sein. Stark, Marie. Irgendwann werden wir … wir werden belohnt werden. Wenn Gott will. Dann sind wir wieder
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