Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
Moment, die Stimme von Felix zu hören. Aber das war wohl eine Täuschung.
In der Tür wandte sich Ernesto noch einmal um. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen, als sei ihm in letzter Sekunde noch etwas eingefallen. »Ich könnte Ihnen meine junge Kollegin schicken. Eine sehr fähige Psychologin. Von Frau zu Frau kommt man ja vielleicht besser klar. Die Kollegin hat viel mit Frauen der in Afghanistan gefallenen oder verwundeten Soldaten gearbeitet …«
Jetzt wirkte Ernesto wie ein Vertreter, der seine Felle davonschwimmen sah und der störrischen Hausfrau in der Tür noch ein letztes Angebot machte.
»Vielleicht später. Aber jetzt ist es besser, ich versuche es allein.«
Marie hatte den Eindruck, dass es Ernesto gar nicht so sehr um Felix ging. Dafür war sein Versuch, den Jungen zum Sprechen zu bringen, auch etwas zu halbherzig gewesen.
Dabei hatte Ernesto ja gar nicht so Unrecht. Sie musste wirklich an sich denken. Wenn sie es nicht mehr schaffte, hatte Felix auch nichts davon. Sie musste durchhalten. Das war ihre Pflicht als Mutter.
Bisher war sie noch kaum dazu gekommen, darüber nachzudenken, was es hieß, dass Karl tot war. Abends, wenn der Junge endlich schlief, fiel sie meistens selbst müde ins Bett. Dann kamen ihr immer die Tränen. Sie weinte sich in den Schlaf. Aber in ihrem Kopf war nichts, was Karl anging. Sie weinte aus Übermüdung.
Seit sie es wusste, spürte sie einen dumpfen Schmerz, den sie nicht richtig deuten konnte. Ein Phantomschmerz vielleicht. Nannte man so nicht den Schmerz, den man in einem Körperteil zu spüren glaubte, der amputiert worden war?
Marie war klar, dass es noch schlimmer kommen würde. Das war unausweichlich. Schließlich war sie seit über zehn Jahren mit Karl zusammen gewesen. Sie hatte ihn geliebt. Dessen war sie sich sicher – für die Zeit vor Afghanistan. Danach hatte sie nicht mehr so recht gewusst, was sie mit ihren Gefühlen für ihn anfangen sollte. Die wenigen Heimatbesuche hatten daran auch nichts geändert. Sie hatte jedesmal in dem Besucher den Mann gesucht, den sie Monate vorher in Berlin unter Tränen verabschiedet hatte. Aber sie hatte ihn nicht mehr gefunden. Karl war ein Gast im eigenen Haus geworden.
Die Liebe zu Karl war in ihr abgestorben wie ein Kind, das im Mutterleib erstickt. Sie hatte es erst nicht bemerkt – oder nicht wahrhaben wollen.
Jetzt, wo er tot war, begann alles wieder von vorne.
Das Video hatte auch seinen Teil dazu beigetragen. Es war schrecklich, Karl so zu sehen. In diesem anderen Körper. So abgemagert und so müde. Was hatte er bloß alles durchmachen müssen, bis er so aussah? Marie fragte sich, ob Karl verrückt geworden war. Ja, so musste es sein: Karl hatte in Kundus den Verstand verloren.
Er tat ihr leid. Zumal er das alles auch für sie und den Jungen getan hatte. Weniger für die Sicherheit seines Landes. Karl gehörte zwar zu denen, die daran glaubten, dass auch Deutschland am Hindukusch verteidigt wurde. Aber er hatte nicht seine Familie im Stich gelassen, weil er gemeint hatte, er müsste unbedingt dabei sein. Karl war nach Kundus gegangen, weil er es für wichtig hielt. Aber auch vieles andere war wichtig. Am wichtigsten war ihm seine Familie. Und für die wollte er eine bessere Zukunft herausschlagen. Dafür war er gefallen.
Das tat Marie weh. Er war für sie gefallen – auch wenn sie ihn nicht darum gebeten hatte.
Gleichzeitig aber kam Bitterkeit in ihr auf. Warum war er nach Afghanistan gegangen, obwohl sie so vehement dagegen gewesen war? Sie war nicht nur gegen Kundus gewesen. Sie war auch dagegen gewesen, dass er kämpfte. Waffen und Kämpfe, bei denen Blut vergossen wurde, widerten sie an. Das hatte ihr zu schaffen gemacht.
Es war keine intellektuelle Ablehnung des gewaltsamen Todes. Die konnte Marie auch nachvollziehen. Aber sie war schwach und steril im Gegensatz zu dem, was sie quälte.
Marie litt unter der Vorstellung, dass jemand durch Karls Hand sterben konnte. Dass ein Mensch, der ebenso wie sie und alle anderen leben wollte, durch eine Kugel getötet wurde, die Karl abgeschossen hatte. Für Marie war es, als würde sie selbst diese Kugel abfeuern – und da war ja auch was dran, denn Karl kämpfte für sie in Afghanistan. Er schoss für das große, weiße Schiff und das Ausflugsunternehmen, das sie einmal ernähren sollte.
Sie hatte mit Karl darüber gesprochen. Er hatte ihre Ängste auch ernst genommen. Aber das hatte nichts an seinem Entschluss geändert. Marie hatte ihren
Weitere Kostenlose Bücher