Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
die Nachricht vom Tod des Vaters war. Sie machte sich an die Zubereitung des Abendessens.
Sie kochte Reis und rührte dazu eine Käsesoße an. Das machte sie öfter, es kostete wenig Zeit und Felix mochte das Essen – wie die meisten Kinder. Als sie fertig war, deckte sie den Tisch. Möglicherweise brachte Felix jetzt nichts hinunter, das wäre kein Wunder. Aber sie wollte ihm wenigstens die Möglichkeit geben, zu Abend zu essen. Vielleicht war es ja eine vernünftige Art, mit der schwierigen Situation fertig zu werden, indem sie einfach das taten, was sie immer taten.
Marie stieg die Treppe hinauf und horchte an der Tür.
Vielleicht lag Felix auf seinem Bett und weinte. Dann würde sie ihn in Ruhe lassen.
Doch sie hörte nichts.
Sie klopfte an die Tür.
Nichts.
Sie öffnete die Tür und trat ein.
Felix saß an seinem Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Umso besser. Er ging zur Tagesordnung über. Das war vielleicht der gesündeste Weg.
»Essen ist fertig!«
Er antwortete nicht.
»Kommst du?«
Felix kritzelte weiter. Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie schaute in das Heft, das vor ihm lag. Felix machte die Mathematikaufgaben.
»Oder willst du nichts essen?«
Der Junge schwieg.
Marie beugte sich zu ihm herab. »Bist du mir böse?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er schwieg. Und dabei blieb es.
Nach zwei Tagen wusste Marie nicht mehr weiter.
Sie hatte alles versucht, aber Felix weigerte sich, ein Wort zu sprechen.
Sie vermutete, dass es eine kindliche Projektion war. Der Junge machte sie für den Tod des Vaters verantwortlich, weil sie es war, die ihm diese schreckliche Nachricht hatte überbringen müssen.
Aber als Marie in der Mimik und dem Verhalten des Jungen eine Bestätigung für diese Annahme suchte, konnte sie keinen Hinweis darauf finden, dass er ihr etwas übel nahm. Er schien nur einfach nicht reden zu wollen. Sonst war er wie immer.
Marie brauchte professionelle Hilfe. Gunter traute sie nicht zu, dass er ihr mit dem Jungen weiterhelfen konnte. Sie hatte vielmehr den Eindruck, dass der Militärgeistliche alle Hände voll mit sich selbst zu tun hatte.
Da fiel ihr ein, dass die Offiziere aus Berlin ihr einen Therapeuten empfohlen hatten. Von der Bundeswehr war bei ihrem Problem mit Felix nicht viel zu erwarten. Aber vielleicht wusste dieser Psychologe, was zu tun war. Angeblich hatte er ja auch die anderen Familien betreut, die einen Vater in Afghanistan verloren hatten.
Sie suchte die Karte mit der Nummer des Berliner Therapeuten heraus, die die Offiziere ihr dagelassen hatten.
Es lief ein Band. Sie nannte ihren Namen und ihren Wohnort. Dann sagte sie, sie habe Probleme mit ihrem neunjährigen Sohn, dessen Vater unter den Toten des letzten Selbstmordanschlages war. Dann hinterließ sie ihre Telefonnummer.
Schon eine Stunde später kam der Rückruf. Der Anrufer stellte sich mit Vornamen vor: Ernesto. Er hatte eine weiche, aber dennoch klare Stimme. Der Mann wusste, was er wollte. Er sagte, er würde sofort nach Koserow kommen, und ließ sich beschreiben, wo Marie und Felix wohnten.
Marie hatte Felix nicht in die Schule geschickt. Was sollte er dort, wenn er nicht sprach?
Er beschwerte sich deshalb nicht. Er sagte überhaupt nichts. Er saß auf seinem Zimmer und blätterte in Comics, spielte am Computer oder sah fern. Eigentlich war er wie immer – nur dass er nicht mehr sprach.
Marie überlegte, ob sie einfach so tun sollte, als wäre nichts geschehen. Ob sie mit ihm sprechen sollte, auch wenn er nicht antwortete. Ob sie trotz seines beharrlichen Schweigens weiterreden sollte. Aber das erschien ihr dann doch zu hartherzig.
Ernesto war um die sechzig. Er trug seine krausen Haare lang, hatte einen grauen Bart, ausgebeulte Hosen und einen viel zu großen Strickpullover. Ernesto wirkte etwas konfus, aber Marie bemerkte schnell, dass das eine professionelle Inszenierung war. Dahinter war Ernesto hellwach und beobachtete Marie sehr genau.
»Felix ist oben. Soll ich ihn holen?«, fragte sie.
Sie war etwas verlegen. Marie hatte noch nie einen Psychologen gebraucht. Auch nicht für Felix. Er war eigentlich ein ganz normaler und gesunder Junge. Bis gestern. Bis er erfahren hatte, dass sein Vater in Kundus einem Selbstmordattentat zum Opfer gefallen war.
»Lassen Sie uns erst reden«, sagte Ernesto und rieb sich die Hände, als gelte es, eine schwierige, im Grunde aber spannende Arbeit in Angriff zu nehmen.
»Mögen Sie einen Tee?«
Ernesto spreizte
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