Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
jetzt gerne gewusst hätte, war ihr auch erst später eingefallen.
Vorerst war nur eines wichtig: Karl lebte.
Und sie hatte Felix Unrecht getan. Der Junge hatte mit seinem Vater gesprochen. Er hatte gewusst, dass sein Vater nicht bei dem Anschlag in Kundus ums Leben gekommen war. Er hatte sich von ihr nicht verunsichern lassen.
An dem Morgen nach dem nächtlichen Anruf ging Felix wieder in die Schule. Marie hatte ihn nach den Aufregungen schlafen lassen wollen. Aber er war von selbst aufgewacht und kam mit dem Ranzen auf dem Rücken in die Küche, während Marie Frühstück machte.
Er trank seinen Kakao und aß einen Keks. Dann verabschiedete er sich mit einem Kuss von seiner Mutter und machte sich auf den Weg. Als wäre nichts gewesen.
Marie konnte wieder durchatmen. Vielleicht wurde doch noch alles gut.
An diesem Morgen entschloss sie sich, Felix das Video aus Kundus zu zeigen. Gleich wenn er aus der Schule kam. Das würde sein Vertrauen in sie wieder stärken.
Sie hatte es in der Schublade abgelegt, in der auch die Pistole lag, die Karl ihr besorgt hatte. Die Pistole war noch da. Sie hatte sie nach Gunters zweitem Besuch wieder zurückgelegt, bevor Felix etwas davon mitbekam. Der Junge sollte nicht wissen, dass eine Waffe im Haus war.
Doch die CD mit dem Video war weg.
Marie überlegte. Hatte sie die CD etwa aus der Schublade genommen und irgendwo anders deponiert? Stimmt, sie wollte sich ja den Film wieder anschauen. Jetzt, wo sie wusste, dass Karl lebte, würde sie seine Botschaft anders interpretieren.
Aber Marie konnte sich nicht erinnern, die Scheibe aus der Schublade genommen zu haben.
Sie begann, an den Orten zu suchen, wo sie normalerweise so etwas ablegen würde. Im CD-Regal. Bei den Zeitungen. In der Eckbank. Im Aktenschrank. Nichts. Die CD mit Karls Botschaft aus Kundus war weg. Wie konnte das sein?
Das Haus verliert doch nichts, sagte Marie laut.
Da läutete es an der Tür.
Es waren zwei Herren in dunklen Anzügen. Wie Zwillinge. Marie erinnerten sie sofort an die Wettervorhersage der Commerzbank im Fernsehen. Zwei bierernste Männchen mit einem Regenschirm.
Ihr Wagen stand auf der Straße. Ein grauer Van.
Marie dachte erst, es handle sich um Vertreter. Oder um Zeugen Jehovas – so feierlich, wie sie guckten.
»Frau Blau?«
»Ja.«
»Wir kommen aus Berlin. Aus dem Verteidigungsministerium. Können wir Sie kurz sprechen?«
Marie fiel sofort ein, was Karl ihr in der Nacht am Telefon gesagt hatte.
Du darfst niemandem glauben, Marie. Und niemandem etwas erzählen. Das geht nur uns beide etwas an. Nimm dich in Acht! Traue niemandem!
Sie ließ die beiden herein. Komisch, dass sie immer zu zweit kommen, dachte sie. Ob sich einer allein nicht traut? Oder glauben sie, zu zweit machen sie mehr Eindruck?
Diesmal bot sie keinen Tee an. Sie bat die beiden auch nicht, Platz zu nehmen – obwohl sie aussahen wie harmlose Verwaltungsbeamte, die ihre Arbeit ohne Begeisterung und immer mit einem Seitenblick auf die Uhr verrichteten.
Marie blieb steif stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie befand sich im Krieg.
Sie musste Augen und Ohren offen halten. Überall lauerten Gefahren.
Das geht nur uns beide etwas an. Es ist alles – sehr schwierig. Ich muss mich eine Weile verstecken. Ich muss jetzt aufhören. Sonst orten sie mich.
»Wir müssen mit Ihnen über einen ehemaligen Angehörigen der Truppe sprechen«, sagte der, der auch an der Tür gesprochen hatte. Sein Zwilling schaute sich um, er schien nicht zuzuhören und sich nicht für das zu interessieren, was gesprochen wurde. Er schaute sich nur um.
»Meinen Sie etwa meinen Mann?«
»Es geht um Gunter Theobald. Den Militärgeistlichen der Garnison in Kundus. Es liegen uns Hinweise darauf vor, dass Herr Theobald gegen Bestimmungen der Bundeswehr verstoßen hat.«
»Gegen Bestimmungen der Bundeswehr? Was denn für welche?«
Der Mann schloss kurz die Augen. Er schien sich konzentrieren zu müssen. »Was wir von Ihnen wissen wollen: Ist Herr Theobald bei Ihnen aufgetaucht?«
Wenn er meine Frage nicht beantwortet, muss ich seine auch nicht beantworten, sagte sich Marie. Was war das für eine Wortwahl: aufgetaucht ?
»War er in den letzten Tagen hier?« Der Mann hatte seine Augen wieder geöffnet und schaute Marie müde an – so als müsste er sich tagtäglich mit der Befragung von Menschen herumärgern, die einfach nicht kooperieren wollten.
»Herr Theobald war letzte Woche hier. Er hat mir Grüße von meinem Mann
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