Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
seinem Kind. Egal, was da komme. Selbst ein Krieg kann ihn davon nicht abhalten. Vor allem kein Krieg am anderen Ende der Welt. Ein Krieg, mit dem er und seine Familie nichts zu tun haben.
Marie kamen die Tränen. Erst vor Wut. Dann weil sie sich fragte, was mit ihrem Kind passierte, wenn man sie hier länger festhielt. In ihrem Kopf ging alles durcheinander.
Sie sprang auf. Wollte um Hilfe schreien. Dann setzte sie sich wieder hin, weil ihr einfiel, dass es albern war, in einem solchen Gebäude auf Hilfe von außen zu hoffen. In einem Gebäude mit 500 Zimmern. So viele Zimmer hatte der Bendlerblock. Das wusste sie von Karl.
Jetzt schwitzte sie am ganzen Körper. Sie war klatschnass. Wie in einer Sauna.
Marie sank auf dem Stuhl zusammen. Sie war am Ende.
Die Tür flog auf. Als wäre sie nie verschlossen gewesen.
Einer der beiden Adjutanten stürmte herein. Er grinste. Marie konnte es erst nicht glauben: Als sei alles ein Scherz gewesen. Ein gelungener Scherz. Ein Scherz, über den sie sich hinter den Kulissen schiefgelacht hatten. Nur Marie hatte nicht mitlachen können. Sie war die Gelackmeierte.
Ein Mann in Uniform betrat den Raum. Er war älter und wirkte ziviler als der junge Adjutant. Er schaute sich um, als sei er ebenso fremd hier wie Marie.
Jetzt erst erkannte sie ihn.
Es war Ernesto. Dr. Ernesto Breuninger. Der Psychologe, den sie in seiner Praxis am Schöneberger Ufer hatte aufsuchen wollen. Ernesto hatte immer noch wuschelige, graue Haare. Und er wirkte ebenso konfus wie in Koserow. Doch diesmal trug er Uniform.
Was Marie am meisten irritierte: Ernesto sah nicht aus, als habe er sich bloß als Soldat verkleidet. Die Uniform – tadellos und im Gegensatz zu seiner Kleidung beim letzten Treffen alles andere als nachlässig – passte zu ihm. Er trug sie öfter. Das sah Marie sofort.
Sie hatte durch Karl Männer und Frauen erlebt, zu denen ihre Uniform nicht passte. Solche Menschen wirkten etwas linkisch und unsicher. Sie fühlten sich in einer Uniform nicht wohl, mussten aber eine tragen.
Bei Ernesto war das anders. Seine Uniform war ihm wie auf den Leib geschneidert. Und er bewegte sich darin ebenso selbstverständlich wie in den Schlabberklamotten, die er bei seinem Besuch in Koserow getragen hatte. Marie sah die Schulterstücke, sie sah das schwarze Viereck im schwarzen Halbkranz und wusste, dass sie einen Major vor sich hatte.
Der Psychologe war drei Dienstgrade höher als Karl, der Oberleutnant.
Ernesto Breuninger musterte Marie. Dass sie es verwunderlich finden könnte, ihn plötzlich hier zu sehen, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen.
Ernesto wandte sich dem Adjutanten zu: »Öffnen Sie sofort ein Fenster und bringen Sie der Dame ein Glas Wasser!«
»Jawoll, Herr Major!«, schnurrte der Adjutant.
Er ging zu einem der Fenster – schloss es mit einem winzigen Schlüssel auf und öffnete es. Von draußen strömte ein kalter Luftzug herein. Die offenstehende Tür schlug zu.
»Wird’s bald!?«, zischte Ernesto.
Der Adjutant bekam einen roten Kopf und verließ den Raum.
Marie zog ihre Bluse wieder an. »Die Heizung ließ sich nicht abdrehen«, sagte sie.
Ernesto nickte gequält – so, als schlage er sich schon lange mit diesem Problem herum. »Die Installationen in diesem Gebäude sind uralt. Wir leiden alle darunter. Bitte, entschuldigen Sie den Umstand!«
Den Umstand?
Marie sprang auf. Sie wurde laut – erst noch etwas verhalten, dann aber wie bei einem Wutausbruch. »Hören Sie, man hat mich hier eingeschlossen! Können Sie mir sagen, was das soll? Seit wann darf die Bundeswehr Bürger dieses Landes einfach einschließen und derart behandeln? Sagen Sie mir das!«
Ernesto zeigte ein besorgtes Gesicht. Er nahm ächzend auf dem zweiten Stuhl Platz. Marie vermittelte er den Eindruck eines zermürbten Menschen, dem das, was mit Marie geschehen war, selbst oft genug geschah.
»Bitte!«, sagte er leise und deutete auf Maries Stuhl.
»Wissen Sie was? Ich werde eine Anzeige machen. Wegen Freiheitsberaubung.« Maries Stimme zitterte. »Mal sehen, was dann passiert.«
Aber sie setzte sich. Sie wollte nicht stehen bleiben, während Ernesto saß. Das wäre wie bei einem Verhör gewesen. Das war doch kein Verhör, oder? Es gab keinen Grund, sie zu verhören. Sie war im Recht. Und dieser Ernesto Breuninger, der sie nach alledem auch noch mit diesem psychologischen Schmierentheater belästigt hatte, war im Unrecht.
Doch der Major erklärte so ruhig, als habe er diesen Ernstfall
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