Allem, was gestorben war
Holte. Oder besser gesagt Auge in Kinn, Holte war größer, und er reckte sich noch extra, wenn er Männer traf, die kleiner waren als er.
Wie immer, wenn er Holte traf, unterdrückte Bourse einen Impuls, die rechte Hand zu recken und »Heil Holte!« zu brüllen. Vielleicht würde ihm das schmeicheln. Jetzt drückte er stattdessen auf den Knopf für ein Stockwerk tiefer, er wollte so wenig Zeit wie möglich mit dem Chef im Aufzug verbringen. Keiner von beiden sagte ein Wort.
Bourse stieg aus und Holte fuhr weiter zum Erdgeschoss hinunter. Er sah auf seine Armbanduhr, ging zu seinem Auto, stieg ein und saß zwei Minuten da, die Hände fest ums Lenkrad geklammert.
In einer Stunde würde er eine Person treffen.
Holte tat jetzt etwas, was ihn noch niemand außerhalb des Boxrings hatte tun sehen.
Er verbarg das Gesicht in den Händen, ganz kurz; als er sich wieder der Welt öffnete, war er bleich: das Gesicht Ton in Ton mit der Verkleidung an den Innenseiten der Autotüren.
Die Sonne war zu neuem Leben erwacht. Es musste möglich sein, die Linien zu entfernen, jedenfalls einige.
Sie lebte! Der Bulle mit dem seltsamen Namen. Niemand machte Umstände, als er um Auskunft bat. Sehr ernst, aber nicht lebensbedrohlich. Keine Hirnschäden, der Sauerstoff hatte gereicht. Sie war rechtzeitig eingeliefert worden. Ha! Würde er jetzt eine Medaille bekommen?
Er würde hier bleiben und die Sonne noch einmal malen.
Könnte er zum Krankenhaus fahren? Was sollte er sagen?
12
Da ist noch manches unerledigt.«
»Was zum Beispiel?«
»Die Polizei. Jetzt ist es an der Zeit, die Polizei einzuschalten.«
Sah er Angst oder Resignation in ihrem Blick? Oder einen Funken Verantwortung für etwas, was kommen würde ... vielleicht war es genau das.
»Ich glaube ... das Ganze findet eine natürliche Erklärung.«
»Dein Mann ist im Augenblick am wichtigsten?«
»Willst du nicht auch eine Erklärung?«
Er wusste nicht, ob er das wollte. Vielleicht wollte er nur schlafen gehen und aus einem bösen Traum aufwachen.
»Ist es nicht ein wenig verdächtig, Einbruch und Misshandlung nicht anzuzeigen?«
»Können wir nicht bis heute Abend warten?«
»Und heute Abend Anzeige erstatten?«
»Warte, bis ich Georg getroffen habe.«
Er hatte sie auf dem gestreiften Sofa zurückgelassen. Wide wusste nicht, ob die Gelegenheit richtig war, aber er hatte den CD-Spieler angestellt, warum hatten sie keine Musik gehört, und hatte sich sehr schnell für »La Travia-ta« entschieden, direkt im zweiten Akt Lunge da lei... Pavarottis Alfredo, die Aufnahme von der Metropolitan im Oktober 1970 mit hustendem und Füße scharrendem Publikum. Es war, als säße man mitten unter ihnen, wenn man sich erst einmal an die Nebengeräusche gewöhnt hatte. Was hatte Wide selbst 1970 getan? Was machte ein Siebzehnjähriger an einem Oktobertag? Sie hatte gelauscht.
»Das klingt wie ein Raubmitschnitt vom Stehplatz aus.«
»Das ist tatsächlich Nota Blu.«
»Gar nicht schlecht, aber in der Gegenw.«
»Du hast Traviata doch schon mal gehört.«
»Nicht diese Aufnahme.«
»Entschuldige mich bitte einen Moment.«
Er hatte sich zur Küche umgedreht.
»Ich mach uns jetzt was zu essen.«
Erst in der Küche kehrte die Erinnerung mit aller Wucht zurück. Was zum Teufel sollte er tun? Ihm ging es immerhin so gut, dass er es schaffte, die Spüle sauber zu machen. Er öffnete die Kühlschranktür, er musste sich nur noch entscheiden, ein Gefühl, wie wenn man mit angsterfülltem Kater zur Arbeit geht oder die letzten hundert Meter im Hindernisrennen vor sich hat.
Er stand eine Weile vor der ziemlich leeren Tiefkühltruhe. Was auch geschah und wie groß die Probleme auch waren, er würde immer versuchen weiter zu kochen. Das war mehr, als sich am Leben zu erhalten. Er hoffte, Elisabeth vermisste sie jetzt, seine Gerichte. Die Vorstellung war Teil seines Selbstmitleids geworden. Wie ging es ihr mit Melker? Musste sie ihm abends das Kaffeewasser vorwärmen, damit er am nächsten Morgen nicht ganz hilflos in der Küche herumstand?
Selbst gemachte Ravioli. Er nahm die Packung mit den Pastakissen hervor, Opera und Pasta waren ja keine schlechte Kombination, aber an diesem Tag bekam das Ganze eine bizarre Prägung. Er musste wohl etwas sagen, wenn er das Essen auftrug, das Einzige, was im Haus war, und das stimmte sogar.
Er brauchte es ja nicht gerade zu übersetzen, Casonsei von Brescia, kleine Unterhosen, gefüllt mit frischem Schinken, geriebenem Parmesan und Frischkäse
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