Aller Heiligen Fluch
Vater war. «Sie hat mich ganz direkt gefragt, da konnte ich doch nicht lügen.» Dazu hatte Ruth durchaus ihre eigene Meinung, sie war aber so klug, die nicht zu äußern. Nelson jedenfalls hatte alles zugegeben, und Michelle und er hatten «reinen Tisch gemacht». Sie hatten sich fürchterlich gestritten («Es war schrecklich, Ruth, wir haben uns zwei Tage lang gestritten. Wir streiten sonst nie.» – «Ach?»), mit dem Ergebnis, dass Nelson versprochen hatte, weder Ruth noch Kate jemals wiederzusehen. «Es war die einzige Möglichkeit, unsere Ehe zu retten. Es tut mir leid.» Und was, wollte Ruth mit versteinerter Miene wissen, wenn sie sich bei der Arbeit begegneten? «Falls das passieren sollte, akzeptiert sie das natürlich.» Nelson wollte «finanzielle Vorsorge treffen», ihr jeden Monat Geld zukommen lassen, doch das lehnte Ruth ab. Ihr war nicht klar gewesen, wie weit Nelson gehen würde, um seine Ehe zu retten. Und auch nicht, wie weh ihr das tun würde.
Es war schlimm gewesen, Nelson heute im Museum zu begegnen, viel schlimmer noch, als den bedauernswerten Neil Topham tot und zusammengekrümmt neben dem Bischofssarg liegen zu sehen. Ruths Gefühle für Nelson sind derart kompliziert, dass sie längst aufgehört hat, sie verstehen zu wollen. Immer, wenn sie ihn sieht, empfindet sie in rascher Folge: Ärger (weil er der rechthaberischste Mensch ist, den sie kennt), Achtung (weil er seine Arbeit wirklich gut macht), Freude (weil er sie zum Lachen bringt) und eine nicht zu leugnende Anziehung. Liebt sie ihn? Auch diese Frage stellt sie sich längst nicht mehr. Sie weiß, dass sie nie wieder mit einem Mann zusammenleben will. Zu genau erinnert sie sich, wie vor sieben Jahren, als Peter auszog, sogar das Haus vor Erleichterung aufzuatmen schien. Endlich waren sie unter sich: Ruth und die Katzen und der wilde Horizont. Heute sind sie zu dritt unter sich: Ruth und Kate und der Kater Flint. Und trotzdem war es schön, Nelson in der Nähe zu wissen. Er ist zwar ein Mann und ein Chauvi-Schwein, aber in Notlagen konnte er doch ganz nützlich sein.
Bring back, bring back, oh bring back my bonnie to me …
Sie hat das Salzmoor erreicht. Es ist längst dunkel, doch sie hört das Meer in der Ferne seufzen. Die Straße erhebt sich ein gutes Stück über die sumpfige Ebene, und an einem Tag wie heute hat man das Gefühl, am Ende der Welt angelangt zu sein. Ruth mag die Plastikmonster und Zwerghexen hinter sich gelassen haben, doch hier ist es wahrhaft unheimlich. Das Dunkel, das Unbekannte. Ruth hat im Salzmoor schon echte Ängste ausgestanden, und dennoch liebt sie es. Neben ihrem Häuschen gibt es noch zwei weitere, doch eines davon steht leer, und das andere ist ein Ferienhaus, in dem nur selten jemand ist. Es ist ein einsamer Wohnort, doch alles in allem schätzt Ruth die Einsamkeit. Und so verspürt sie jetzt, als sie vor ihrem Haus hält und das Licht des Bewegungsmelders, den Nelson vor zwei Jahren installiert hat, auf das «Verkauft»-Schild vor dem Haus nebenan fällt, den gewohnten Unwillen, fast schon Zorn. Sie weiß, dass der neue Eigentümer das Haus vermietet hat, und rechnet jeden Moment damit, dass ein hippes Pärchen über den Gartenzaun späht und sie auf ein paar Sushi einlädt oder irgendein vollbärtiger Einzelgänger ihr seine Sammlung getrockneter Algen zeigen will. Oder aber ein … Schluss jetzt, ruft sie sich zur Ordnung, während sie die Tür aufschließt und Kate ins Haus trägt. Es kann ja schließlich auch ein Seelenverwandter sein oder jemand mit Kindern in Kates Alter, mit denen sie spielen kann. Doch in Wahrheit will Ruth gar keine neuen Freunde. Die vorhandenen machen ihr schon genug Ärger.
Nelson ist in ähnlich aufgewühlter Verfassung unterwegs zum Krankenhaus. Das Wiedersehen mit Ruth war genau so schlimm, wie er es sich ausgemalt hat. Und als sie dann auch noch von Katie gesprochen hat! Was Nelson für Ruth empfindet, ist so sehr mit Ängsten und Schuldgefühlen versetzt, dass er das alles unmöglich auseinanderklamüsern kann. Seine Gefühle für Katie hingegen sind glasklar. Er liebt sie, obwohl er sie überhaupt nur dreimal im Arm gehalten hat, und er will ihr Vater sein. Aber das ist nicht möglich.
Die Ereignisse bei der Taufe vor einem halben Jahr schmerzen immer noch so sehr, dass Nelsons Gedanken automatisch zurückschrecken, sobald er der Erinnerung auch nur nahekommt. Jetzt zwingt er sich, daran zu denken. Anfangs gab es keinerlei Probleme mit Michelle. Sie freute
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