Aller Heiligen Fluch
draußen auf dem Moor Vögel und ist viel zu beschäftigt, um an sein Katzenfutter zu denken. Aber inzwischen ist es stockdunkel draußen, und immer noch fehlt von Ruths geliebtem Kater jede Spur.
Ihr ist klar, dass sie ein bisschen neurotisch reagiert, wenn es um Flint geht. Früher hatte sie noch eine zweite Katze, eine hübsche kleine schwarz-weiße Kurzhaar namens Sparky. Sparky war zurückhaltender als Flint und um einiges anspruchsloser, aber dennoch eine echte Persönlichkeit, frohgemut und unabhängig. Ruth hing sehr an ihr, doch eines späten Abends öffnete sie ihre Haustür und fand Sparky mit durchschnittener Kehle auf der Schwelle. Ihr kommen immer noch die Tränen, wenn sie bloß daran denkt. Sparkys Tod war nur eines in einer ganzen Reihe albtraumhafter Ereignisse, die schließlich in einem Mord gipfelten. Ruth weiß, dass der Mord an einem Menschen viel schwerer wiegt. Sie liebt ihre Katzen, trotzdem sieht sie die Dinge noch im richtigen Verhältnis. An der Universität ist man ständig auf Angriffe von Tierschutzorganisationen gefasst, doch obwohl der Einsatz von Tieren für wissenschaftliche Versuche Ruth gewaltig gegen den Strich geht, sieht sie ein, dass es hin und wieder nötig ist. Sie stellt die Rechte von Tieren keineswegs über die des Menschen, ihre Katzen sind ihr aber unbestreitbar lieber als die allermeisten Menschen. Und deshalb fühlt sie sich jetzt, als Flint nicht auf ihr Rufen reagiert, unwohl und beklommen. Er ist ein Kater, sagt sie sich. Katzen tun nun mal, was sie wollen. Trotzdem sieht sie ihn immer wieder vor sich, misshandelt, sein schönes rotes Fell von Blut verklebt …
Hör auf damit, ruft sie sich zur Ordnung, während sie zum zehnten Mal die Treppe schrubbt. Wahrscheinlich hat er gerade einen Heidenspaß dabei, Wühlmäuse durchs hohe Gras zu jagen. Aber Flint ist ein Gewohnheitstier, und sonst ist er um diese Zeit immer zu Hause, liegt lang ausgestreckt auf dem Teppich und schnurrt wie ein Wäschetrockner im Schleudermodus. Ruth kennt keine andere Katze, die so laut schnurrt. Wo steckt er bloß?
Das Schlimmste ist, dass sie wegen Kate nicht einfach aufs Moor hinausgehen und nach ihm suchen kann. Sie geht bis ans Ende des Gartens und wieder zurück und lauscht auf ein verräterisches Rascheln in den windzerzausten Büschen, das ihr sagen könnte, ob Flint in der Nähe ist. Nichts. Alles ist still, bis auf das Meer, das im Hintergrund rauscht, und den fernen Ruf einer Eule. Die Eule. Das Attribut der Hekate. Ruth fühlt sich der Göttin der Zauberkunst sehr verbunden, deshalb betet sie auch zu ihr und nicht nur zu dem anderen Gott mit seinen machohaften Zügen. Glauben tut sie letztlich an keinen von beiden.
Sie kehrt wieder ins Haus zurück. Eigentlich sollte sie Kate ja nach oben ins Bett tragen, aber sie schläft so friedlich, dass die Versuchung groß ist, sie einstweilen zu lassen, wo sie ist. Wie kann sie bloß schlafen, wo Flint doch verschwunden und womöglich einer Gewalttat zum Opfer gefallen ist? Es riecht immer noch ein wenig nach Erbrochenem, Ruth muss die Treppe noch einmal putzen.
Da klopft es an der Tür, und Ruth erstarrt, den Putzlappen in der Hand. Besucher sind selten im Salzmoor, und um diese Uhrzeit verheißen sie meist nichts Gutes. Ruth hat keine Angst, an einem so abgelegenen Ort zu wohnen, das erzählt sie auch jedem; sie ist einfach nur vorsichtig. «Wer ist da?», ruft sie.
«Ich habe hier eine Katze», antwortet eine unbekannte Stimme. «Gehört die eventuell Ihnen?»
Ruth ist sofort an der Tür. Selbst ein Massenmörder wäre ihr hochwillkommen, wenn er Flint gefunden hat.
Draußen steht ein stämmiger dunkelhaariger Mann mit Flint auf dem Arm. Als der Kater Ruth sieht, maunzt er vorwurfsvoll.
«Flint!» Überglücklich streckt Ruth die Arme nach ihm aus. Er macht sich schwer und quiekt, als sie ihn an sich drückt.
«Man kennt sich also, wie ich sehe», bemerkt der Mann hörbar belustigt.
«Allerdings. Vielen Dank! Wie haben Sie … Wo war …?»
«Er war in meinem Schuppen eingeschlossen. Ich bin heute eingezogen und muss wohl die Tür offen gelassen haben. Tut mir sehr leid.» Mit breitem Lächeln streckt der Mann ihr die Hand entgegen. «Ich bin Ihr neuer Nachbar. Bob Woonunga.»
«Oh.» Ruth setzt Flint auf den Boden und schüttelt die dargebotene Hand. «Freut mich, Sie kennenzulernen.» Wie die eine Hälfte eines hippen Pärchens sieht er nicht gerade aus.
«Übrigens», sagt Bob, «hier liegt ein Päckchen für
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