Aller Heiligen Fluch
dunkel, und eigentlich gibt es keinen Grund, noch länger hier herumzusitzen, Chris Stephensons Bericht durchzugehen und sich zu fragen, was sich wohl am Hafen tut. Wenn es etwas zu berichten gibt, werden Tanya und Tom Henty ihn umgehend informieren, und darauf kann er auch gemütlich zu Hause im Wohnzimmer warten. Trotzdem sitzt er immer noch hier im Büro, trinkt kalten Kaffee und informiert sich über plötzliche Lungenblutungen. Tatsache ist nämlich: Er will nicht nach Hause.
Nachdem Nelson eingewilligt hatte, Ruth nie wiederzusehen, sind Michelle und er einander in die Arme und anschließend ins Bett gesunken. Es war der emotionalste Moment seines Lebens. Nelson war voller Zärtlichkeit für Michelle, voller Dankbarkeit und Reue. In diesem Moment hätte er ihr praktisch alles versprochen. Doch das Hochgefühl hielt nicht lange an. Michelle konnte nicht aufhören, von Ruth zu reden. «Wie ist sie im Bett? Ist sie besser als ich? Wie war es, mit so einer dicken Frau zu schlafen?» – «Hör auf», bat Nelson sie eindringlich. «Können wir es nicht einfach vergessen?» Doch das erwies sich natürlich als unmöglich. Und jetzt, ein halbes Jahr später, schwankt Michelle zwischen tränenreichen Gefühlsausbrüchen («Versprich mir, dass du mich niemals verlässt!») und gespielter Gleichgültigkeit. Gestern Abend war sie mit ein paar Kolleginnen aus und kam erst um Mitternacht heim. Nelson hat mehrmals versucht, sie zu erreichen, aber ihr Handy war aus. Als sie schließlich doch nach Hause kam, saß er da und wartete auf sie. Er hatte sogar schon darüber nachgedacht, eine Streife zu alarmieren. «Ich dachte, das interessiert dich nicht», lautete ihre Antwort, als er wissen wollte, wo sie gewesen sei. Dann war sie nach oben abgerauscht, als wäre er im Unrecht, doch später, im Bett, lag sie schluchzend in seinen Armen und wollte wissen, ob er sie zu alt finde, um noch ein Kind zu bekommen. Und weil er nicht weiß, welche Frau heute daheim auf ihn wartet – die eiskalte Geschäftsfrau oder der vorwurfsvolle Unschuldsengel –, entschließt er sich, im Büro zu bleiben und noch etwas zu arbeiten. Für den Anfang wird er sich ein bisschen über diese Elginisten informieren.
Technisch ist Nelson eine Null, doch Google beherrscht er gerade noch. Schon bald füllen Bilder von Marmorpferden, grinsenden Schädeln und Totems seinen Bildschirm. Und da ist auch wieder dieses Logo, der Mond mit der Schlange darunter. Die Elginisten, liest Nelson, widmen sich der Rückführung kulturspezifischer Kunstgegenstände in ihr Ursprungsland. Er findet einiges über die Elgin Marbles und eine ganze Website, die sich mit dem sogenannten Bogenschützen von Amesbury befasst, einem Skelett aus der Bronzezeit, das in der Nähe von Stonehenge gefunden wurde und nun von einer Gruppe Druiden zurückgefordert wird. Nelson muss sofort an Cathbad denken. Hat Tom Henty nicht gesagt, Cathbad wolle mit ihm reden, über Schädel und Tote, die keine Ruhe finden? Steckt Cathbad etwa mit diesen Leuten unter einer Decke? Ganz abwegig wäre das nicht. Und da Nelson mit Cathbad etwas pflegt, was man eigentlich nur als Freundschaft bezeichnen kann, beschließt er, ihn so bald wie möglich danach zu fragen.
Die meisten Treffer allerdings erzielt die Wortkombination «Aborigine» und «Knochen». Die Elginisten haben ihre Aktivitäten auf das ganze Land ausgedehnt und fordern die Rückgabe aller sterblichen Überreste von Aborigines, die sich in Privatbesitz befinden. In einigen Fällen waren sie anscheinend sogar erfolgreich, und das Internet hält Fotos parat, auf denen mit Tierfellen behängte Aborigine-Häuptlinge strahlend peinlich berührte Museumsmitarbeiter umarmen. Die meisten Berichte aber handeln von Sammlern, die sich weigern, die unrechtmäßig erworbenen Trophäen zurückzugeben, von gegenseitigen Drohungen und erbitterten Vorwürfen. Nelson findet keinen Hinweis darauf, dass die Polizei eingeschaltet wurde, beschließt aber, die Akten zu prüfen. Hat diese Gruppe, die ebenso gut organisiert wie entschlossen wirkt, womöglich etwas mit Neil Tophams Tod zu tun?
«Boss?» Judy Johnson steht in der Tür.
«Habe ich nicht gesagt, Sie sollen heimgehen?», fragt Nelson. «Sie sehen ja furchtbar aus.» Das ist nicht gerade taktvoll, aber Judy sieht tatsächlich völlig fertig aus, bleich, als stünde sie unter Schock.
«Ich gehe auch gleich», sagt sie, «aber ich habe hier den Bericht der Spurensicherung aus dem Smith-Museum. Es gab
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