Aller Heiligen Fluch
aufgewacht. Und danach noch einmal um zehn, um Mitternacht und um halb vier. Entsprechend fühlt sich Ruth, als würde sie schlafwandeln und alles durch eine dicke Glasscheibe wahrnehmen. Sie steckt die Wasserflasche in den Rucksack zurück. Sie muss sich beeilen. Um zwölf hat sie Vorlesung. Im Übrigen tut diese Wärme den Knochen sicher nicht besonders gut. Auch sie sollten bei gleichmäßig niedrigen Temperaturen aufbewahrt werden, so wie der Sarg von Bischof Augustine. Sie nimmt einen Karton aus dem nächstbesten Regalfach und schaut hinein. Knochen türmen sich darin, gelblich-weiß; manche sind nummeriert oder mit einem Datum versehen. Auf den ersten Blick sind es eindeutig Menschenknochen.
Eigentlich hatte sie vor, die Knochen anatomisch korrekt anzuordnen, gibt diesen Plan aber schnell wieder auf. Danforth Smiths Urgroßvater, dieses Original, hat offenbar einfach alles eingesackt, was der Boden des Salzbergwerks auf der Insel hergab. Knochen von Erwachsenen, von Kindern, von Tieren vermischen sich hier zu einem scheußlichen Kolonialmachts-Cocktail. Es sind sogar ein paar hochinteressante Steinwerkzeuge dazwischen, die Ruth beiseitelegt, um sie sich später genauer anzusehen.
Was Cathbad wohl dazu sagen würde? Er und seine Freunde, die Elginisten, die die Knochen wieder mit Mutter Erde vereinen wollen. Sie beschließt, ihn anzurufen. Sie möchte seine Stimme hören, sich vergewissern, dass Cathbad, ihr Freund, der immer so nett zu ihr ist, nichts mit Briefen zu tun hat, die einem Menschen mit dem Tod drohen. Einem Menschen, der dann tatsächlich gestorben ist. Außerdem, sagt sie sich, will sie ihn noch einmal nach dieser «Rückführungs»-Tagung fragen. Aus rein beruflichem Interesse, das absolut nichts mit Max zu tun hat. Es ist so viel passiert, seit sie Max das letzte Mal gesehen hat – allem voran Kates Geburt –, dass sie gar nicht mehr weiß, wie sie zu ihm steht. Sie ruft sich sein Bild vor Augen: groß, lockiges Haar, leicht misstrauische Miene. Als sie Max kennenlernte, war er gerade mit den Ausgrabungen der römischen Villa bei Swaffham beschäftigt, doch schon bald wurde ihr Verhältnis von Ereignissen überschattet, zu denen auch ein Mord gehörte. Auch bei diesem Fall hatte Cathbad seine Finger im Spiel. Er muss wohl doch die Kunst der Allgegenwärtigkeit beherrschen.
Heute allerdings nicht. Cathbad geht nicht ans Telefon. Das ist ungewöhnlich, denn obwohl er standhaft behauptet, Handys würden Gehirntumore verursachen, antwortet Cathbad sonst immer postwendend auf jede SMS und jede Nachricht auf seiner Mailbox. Wo er wohl steckt?
Ruth wendet sich von den Knochen ab und öffnet die Kiste mit den Schädeln. Es sind drei, alle mehr oder weniger intakt. Danforth hat sie als «wunderschön» bezeichnet, und in gewisser Weise kann Ruth das nachvollziehen. Ein menschlicher Schädel ist für jeden Archäologen ein Geschenk, weil er, frei von allen Insignien des Fleisches, ungeheuer viel erzählt. Aber, wie Ruth ihre Studenten stets ermahnt, er ist auch ein Mensch, und hier mussten drei Menschen, drei echte Menschen, die viele tausend Kilometer weit weg geboren und gestorben sind, ihre Schädel in eine Kiste sperren lassen, die im Keller eines Museums in Norfolk aufbewahrt wird. Wie ist es dazu gekommen? Und warum?
Der vierte Gegenstand in der Kiste lässt Ruth den Atem stocken. Es ist nur die obere Hälfte eines Schädels, die Hirnschale, und sie wurde so ausgehöhlt, dass sie tatsächlich einer Schale ähnelt. Das muss das berühmte Trinkgefäß sein. Was für ein Mensch trinkt bloß aus dem Schädel eines anderen? Ruth dreht das Objekt in den Händen und überlegt, zu wem es gehört haben mag. Ohne eine Radiokarbondatierung kann sie unmöglich sagen, wie alt es ist, und auch nicht, ob es von einem Mann oder einer Frau stammt. Bei den vollständigen Schädeln ist das schon leichter: Der breite Überaugenwulst und der ausgeprägte Nuchalkamm sagen ihr eindeutig, dass alle drei männlich sind. Einer weist Narben auf, die auf eine Syphiliserkrankung hinweisen könnten. Doch als sie den letzten Schädel betrachtet, weicht sie unwillkürlich zurück, so erschrocken, als stünde sie Smith senior und seinen grabschänderischen Spießgesellen höchstpersönlich gegenüber.
Der Schädel ist von Schnitten übersät. Deutliche Schnittwunden, nicht verheilt, was davon zeugt, dass sie ihm zum Zeitpunkt des Todes oder kurz danach zugefügt wurden. Die Anordnung der Schnitte deutet darauf hin, dass die
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