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Aller Heiligen Fluch

Aller Heiligen Fluch

Titel: Aller Heiligen Fluch
Autoren: Elly Griffiths
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ganz still verhält und Ruth mit ihren großen, dunklen Augen aufmerksam beobachtet. Dann zieht Ruth sich selber an, wirft einfach wahllos etwas über. Sie geht nach unten, füttert Flint (der angesichts des frühen Starts ebenfalls überrascht, wenn auch durchaus erfreut wirkt), macht Kate ein Porridge und sich selbst einen schwarzen Kaffee. Und als der Morgen gerade über dem Salzmoor heraufdämmert, trägt sie Kate nach draußen, zum Wagen. Sie weiß nicht genau, wann die Besuchszeit anfängt, aber sie ist entschlossen, so früh wie möglich im Krankenhaus zu sein.
    Im Wagen stellt sie den Lokalsender ein und erfährt, dass das Unwetter der letzten Nacht halb Norfolk verwüstet hat. In der Nähe von Swaffham ist ein Baum auf ein Auto gestürzt, in Cromer wurden Wohnwagen zerstört, und der Zugverkehr von und nach Norwich ist massiv eingeschränkt. Doch anscheinend gibt es nichts, was Ruth daran hindern würde, zum Universitätsklinikum zu gelangen. Sie fährt vorsichtig, weicht herabgefallenen Ästen und verstopften Gullys aus. Auf der Straße nach King’s Lynn fährt sie durch zentimetertiefes Wasser; sie rutscht ein wenig, doch der kleine Wagen bleibt insgesamt gut auf der Fahrbahn. In den Vororten sieht sie umgekippte Mülltonnen, deren Inhalt sich halb auf die Straße ergießt, und abgestürzte Reklametafeln, die die Schönheiten Norfolks preisen. Ruth fährt weiter, ohne sie zu beachten. Nach einiger Zeit wechselt sie wieder zum Kultursender zurück, und wie immer empfindet sie die vertrauten Stimmen, die von Kriegen, Katastrophen und Wirtschaftskrisen berichten, als ausgesprochen beruhigend. Es ist inzwischen fast sieben.
    Sie zahlt eine horrende Summe, um auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus parken zu dürfen, und trägt Kate zum Haupteingang. Es dauert ein paar Minuten, bis sie die Intensivstation gefunden hat. Nach dem Weg fragen will sie nicht, weil sie fürchtet, man könnte ihr sagen, dass Kleinkinder dort nicht hineindürfen. Aber Kate wird ihren Vater sehen, koste es, was es wolle. Kate empfindet das Ganze als Abenteuer und stapft tapfer neben Ruth durch endlose Schwingtüren, treppauf und treppab, in diesen und jenen Aufzug und über eine rundum verglaste Verbindungsbrücke. Letztere fasziniert sie ungeheuer. Sie sind ganz von Himmel umgeben, und da fliegen doch tatsächlich Tauben unter ihren Füßen durch. «Vogel!», ruft Kate begeistert. «Vogel!» – «Komm her, Kate.» Ruth nimmt sie auf den Arm. Sie müssen rechtzeitig kommen, das müssen sie einfach.
    Doch vor dem Eingang zur Intensivstation wacht ein Zerberus. Eine Krankenschwester, die sich ihnen buchstäblich in den Weg stellt, die Hände in die Hüften gestemmt.
    «Mit dem Kind können Sie da nicht rein.»
    «Aber wir müssen zu Harry Nelson», keucht Ruth. «Es ist dringend.»
    «Der ist nicht hier.»
    Ruth spürt, wie die Knie unter ihr nachgeben. Sie kommt zu spät. Nelson ist tot, und sie muss mit dem Wissen leben, dass sie ihn im Stich gelassen hat. Während sie noch versucht, sich die schicksalhafte Frage abzuringen, hört sie hinter sich eine Stimme. «Ruth?»
    Unter einem Schild, das Besucher dazu anhält, sich die Hände zu waschen, steht Michelle. Sie steckt gerade ihr Handy wieder ein. Hat sie ihre Töchter angerufen? Was hat sie ihnen gesagt? Ihr bleiches, verschlossenes Gesicht gibt keinerlei Anhaltspunkt. Mit Kate auf dem Arm eilt Ruth auf sie zu.
    «Bist du also doch gekommen, ja?», sagt Michelle.
    «Ist er …» Ruth bricht ab. Sie ist ein solcher Feigling, bis ins Letzte.
    Michelle sieht sie lange an, dann sagt sie, mit kaum wahrnehmbarem Lächeln: «Er ist wieder bei Bewusstsein. Er wurde auf die Normalstation verlegt.»
    «Was? Großer Gott!» Ruths Beine versagen ihr unvermittelt den Dienst, und sie sinkt mit Kate auf den nächstbesten Stuhl.
    «Ja. Gegen drei Uhr morgens.» Michelle klingt, als spräche sie mit sich selbst. «Er ist noch sehr schwach, aber sie meinen, er wird wieder ganz gesund.»
    «O Gott!» Ruth beugt sich vor, und die Tränen tropfen ihr nur so aus den Augen. Kate streckt neugierig die Hände danach aus. «Mum?»
    «Ich fahre jetzt nach Hause, um ein bisschen zu schlafen», fährt Michelle fort. «Ich habe gerade die Mädchen angerufen. Sie haben beide auch kein Auge zugetan.»
    Aber ich schon, denkt Ruth, und Kate auch. Es kommt ihr vor, als wären sie beide bei einer wichtigen Prüfung durchgefallen. Sie steht auf. «Danke», sagt sie. «Danke, dass du es mir erzählst.» Und damit wendet
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