Aller Heiligen Fluch
freundlich. Gleich neben der Eingangshalle geht ein Saal ab, den Ruth bisher noch nicht bemerkt hat. Er ist voller Schmetterlinge, die mit Stecknadeln aufgespießt und mit Namensschildern in viktorianischer Schnörkelschrift versehen sind. Kate findet die Schmetterlinge wunderbar, doch ihre eigentliche Begeisterung gilt den ausgestopften Tieren. Begeistert rennt sie von Vitrine zu Vitrine und ruft: «Fuchs! Hund! Katze!» So begrenzt ihr Tiernamen-Repertoire auch sein mag, so wenig Grenzen kennt ihre Freude. Und Ruth stellt fest, dass auch sie die Tiere, selbst die mordlüsternen Möwen, jetzt wohlwollender betrachtet.
Schließlich erklärt Kate sich bereit, sich weiter durch Lord Percival Smiths Studierzimmer («Mann!») und die lange Galerie führen zu lassen. Im Saal für Lokalgeschichte steht Janet Meadows am Fenster.
«Hallo, Ruth», sagt sie.
«Hallo. Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen.»
«Aber gerne. Ist das Ihre kleine Tochter?»
«Ja, das ist Kate.»
«Hallo, Kate.»
«Fuchs», sagt Kate.
Ruth mustert Janet und erinnert sich an ihre Erwiderung, als Ruth bemerkte, Augustines Schlange sehe ja nicht allzu furchterregend aus:
Er hat sie unterworfen. Das Böse wurde besiegt. Er war ein großer Heiliger.
Sie denkt an den Saal, wie er an jenem Tag war: der Sarg, der Museumsführer, die Schlange und der einzelne Schuh.
«Sie waren hier, stimmt’s?», sagt sie. «An dem Tag, als Neil tot aufgefunden wurde.»
Janet sieht mit einem Mal argwöhnisch drein. «Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich wollte zur Sargöffnung kommen, aber es war ja alles abgesperrt.»
«Aber Sie waren schon früher da, nicht? Sie haben die Schlange hier hereingebracht und den einzelnen Schuh, um an Augustine zu erinnern.»
Janet muss entweder ein zweites Paar Schuhe mitgehabt haben oder barfuß nach Hause gelaufen sein. Ruth vermutet Letzteres. Natürlich muss sie barfuß gegangen sein, um es demjenigen gleichzutun, den sie für einen «großen Heiligen» hält.
«Sie hatten kein Recht, sein Grab so zu schänden», sagt Janet jetzt. «Er … sie wollte doch nicht, dass man ihren Sarg öffnet. Deshalb war er ja dort, wo er gefunden wurde. Also habe ich die Schlange hier hereingestellt, eine Ringelnatter in einem Glaskasten, um ihnen Augustines Warnung in Erinnerung zu rufen. Und auch den Schuh. Es war ein Schuh von Jan …» Eine Sekunde lang fragt sich Ruth, wer Jan ist, dann fällt es ihr wieder ein. Jan ist beziehungsweise war Janet. Ihr früheres Ich, Jan Tomaschewski. «Ich war auch als Jan gekleidet», fährt Janet fort, «mit einem meiner alten Anzüge. Es war kein Mensch im Museum. Ich habe die Schlange aus dem Saal für Naturgeschichte geholt und sie hierhergebracht. Der Sarg stand auf einem Tisch mitten im Raum – offen.»
«Offen?»
«Ja, zumindest ein wenig. Ich glaube, der Direktor hat ihn aufgemacht. Ich hörte ihn drüben in seinem Büro herumhantieren. Also habe ich die Schlange und den Schuh hier deponiert. Auch den Museumsführer habe ich hingelegt und ein paar Wörter unterstrichen, einfach als Warnung. Dann hörte ich Schritte und bin aus dem Fenster geklettert. Ich glaube nicht, dass mich jemand gesehen hat, und falls doch, hat man nur einen Mann in Anzug und Hut gesehen. Keine Frau.» Sie macht eine pseudokokette Pirouette.
Es können höchstens Minuten vergangen sein, denkt Ruth, bevor ich hereinkam und Neil Topham tot oder zumindest halbtot vorgefunden habe. Warum in aller Welt hat er den Sarg geöffnet? Er war doch auch verschlossen, als er hier stand. Ruth denkt daran, wie problemlos Phil die Nägel entfernen konnte, viel leichter, als man hätte denken sollen. Der Sarg war ja bereits geöffnet worden, nur wenige Tage zuvor.
«Warum hat Neil den Sarg geöffnet?», fragt Ruth.
Janet zuckt die Achseln. «Was weiß ich? Vielleicht wollte er einfach mal kurz reinschauen. Vielleicht war er zu ungeduldig. Wie auch immer, es hat ihn jedenfalls erwischt, den armen Kerl. Bischof oder Bischöfin Augustine hat Rache geübt.»
Am Nachmittag ist Nelson so stabil, dass er auf eine andere Station verlegt wird. Der Ausflug macht ihm Spaß. Ein Tapetenwechsel ist nie verkehrt, und da die Träger anscheinend beschlossen haben, den längstmöglichen Weg zu wählen, bekommt er dabei auch einiges vom Krankenhaus zu sehen. Außerdem bietet ihm der Umzug einen guten Vorwand, seiner Mutter zu sagen, sie solle doch zu Michelle nach Hause fahren und sich ein wenig ausruhen. Widerstrebend willigt sie ein,
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