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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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seine Ausgehuniform einmal zu Hause anziehen, wenn außer ihr und den Kindern niemand ihn sah, und so weiter. Ihre Wünsche waren zum Lachen gewesen, und sie hatten auch beide darüber gelacht, es war einfach gewesen, ihr einen Wunsch zu erfüllen, aber auch einfach, ihr Nein zu sagen und dennoch zu lachen.
    Gemeinsam mit der Großmutter hatten sie dann beschlossen, dass er ein halbes Jahr nach der Hochzeit, für die er sich hatte konfessionslos erklären müssen, wieder in die katholische Kirche eintrat, so wie sie auch gemeinsam mit der Großmutter beschlossen, das Kind an seinem ersten Geburtstag taufen zu lassen. Dennoch war der erste Streit, an den er sich erinnern konnte, der Streit darüber gewesen, warum sie, die Mutter, ins Taufregister nicht eingeschrieben werden sollte, nicht einmal mit dem Zusatz: Israelitisch . Ohne sie würde das Kind ja überhaupt nicht mehr leben! Ihm sei schließlich nichts eingefallen, um das Kind zu retten. Dabei sei nur eine Handvoll Schnee nötig gewesen, nichts weiter!
    Die Erwähnung der Handvoll Schnee hatte ihn beunruhigt.
    Die Taufe ist doch nicht meine Idee, hatte er darauf gesagt, sondern die deiner Mutter!
    Dann heirate doch meine Mutter!
    Darauf hatte er nichts erwidert.
    Geld gibt sie mir, Geld, diese Mutter.
    Es könne, hatte er daraufhin gemeint, Schlimmeres geben, als eine Mutter, die ihrer Tochter Geld gibt.
    Geld, hatte sie daraufhin noch einmal mit Verachtung gesagt, dann aber geschwiegen. Was die Mutter ihr aber statt des Geldes hätte geben sollen, hatte er nicht erfahren.
    Über Jahre hinweg waren sie darauf angewiesen geblieben, von der Mutter Geld anzunehmen, nur um den Mietzins bezahlen zu können, auch, als das zweite Kind kam, hatten sie sich kein Dienstmädchen und keine Kinderfrau leisten können, und irgendwann nicht einmal mehr Billetts für die Gastspiele der Wandertheater.
    Seine Frau hatte längst schon verstanden: Gerade sie konnte ihm keine Vorwürfe darüber machen, dass er nicht aufstieg. Sie hatte ihren Ärger verschlucken und in sich hineinfressen müssen, und war immer öfter übelgelaunt gewesen, ungeduldig mit den Mädchen und ihm.
    Der Eindruck war, als fahre ein stark beladener Fuhrwagen rasch über die Häuser weg, dann erst merkte man eine wellenförmige Bewegung des Erdbodens. Auch im Hochgebirge bebte es. Das Vieh auf den Almen hörte auf zu weiden und blickte neugierig und unruhig in die Höhe. Die lustigen Kälber begannen zu springen.
    Warum ließ er seinen Rock einfach liegen und hängte ihn nicht selbst auf den Bügel? Warum stritt die ältere Tochter mit der Kleinen, anstatt mit ihr zu spielen, warum machte die Kleine jedesmal ein solches Geschrei, wenn sie sich stieß, warum holte der Vater nicht, wenn er sah, dass es nottat, das Brennholz aus dem Keller, brachte die Uhr zur Reparatur, kümmerte sich um den verlorengegangenen Schlüssel? Wenn er schon am Sonntag mit den Mädchen zum Gottesdienst musste, warum kam er danach nicht pünktlich zum Essen, sondern bummelte noch mit den Töchtern?
    Du vergisst, dass ich den ganzen Vormittag in der Küche stehe und koche!
    Von einem angebrochenen Lampencylinder fiel ein Stück Glas herab, und ein mit dem Griffe auf einem Nagel aufgehängter Regenschirm fiel von demselben herunter. Von der Kirchendecke fiel Tünche.
    Kurze Zeit hatte er sich der Hoffnung hingegeben, dass sie alle durch den Umzug nach Wien auch in ein leichteres Leben umziehen würden, aber nach vier Jahren Krieg, einer Kapitulation und einem weiteren Vierteljahr Hunger, jetzt, da alle Vorräte, die an Holz, die an Lebensmitteln und die an Hoffnung, tatsächlich zur Neige gingen, da die Leere in allen Vorratskammern gleich groß war, und der Dreck schon von unten her durchschien, hatte seine Frau ihm hier in Wien endlich den letzten Vorwurf gemacht, nämlich den, sie zur Frau genommen zu haben, eine Judenhexe aus der Provinz, und nicht einmal eine mit Geld. Wahrscheinlich war es doch so, wie er früher nie hatte wahrhaben wollen: dass sie in ihre mosaische Herkunft eingesperrt war wie in einen Käfig und sich nun zwischen den Stäben wundlief.
    11
    V ielleicht war ihr Vater, als er die Familie verließ, gar nicht weiter gekommen als bis nach Wien. Vielleicht traf sie ihn hier einmal auf dem Markt, und er würde sagen: So sieht man sich wieder. Wenn sie als kleines Mädchen versucht hatte, sich vorzustellen, wo ihr Vater sein mochte, statt bei seiner Familie zu sein, hatte sie immer einen vor sich gesehen, der sich

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