Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
erhängt hat. Vater ist vielleicht in Amerika, hatte die Mutter gesagt. Oder in Frankreich. Sie hatte der Mutter zwar nicht geglaubt. Aber vielleicht war ihr Vater tatsächlich einfach in Wien. Manchmal vergisst sie, dass sie noch ein Säugling war, als er fortging. Selbst wenn er ihr plötzlich auf einer Straße entgegenkäme, könnte er sie gar nicht erkennen. Manchmal fragt sie sich, wie viele Menschen in so einer großen Stadt aneinander vorbeigehen und nicht ahnen, dass sie miteinander verwandt sind. Ihre Mutter trifft sie tatsächlich manchmal auf dem Markt, dann wechseln sie ein paar Worte.
Na, Mädel, wie geht’s euch denn immer?
Gut.
Habt ihr genug zu essen?
Ja.
Seit die Mutter nach Wien gekommen ist, angeblich aus Angst vor dem Krieg, mag sie nichts andres mehr sagen. Irgendwann einmal sollte eine Tochter auf die Frage der Mutter, wie es ihr gehe, nichts weiter antworten können, als: gut.
Aus der Schweiz soll eine Hilfslieferung gekommen sein, 1500 Tonnen Mehl.
Noja, wollen mal schauen, wollen mal schauen.
Dein Vetter hilft dir mit Kohlen?
Wol wol.
Irgendwann einmal sollte eine Mutter auf die Frage der Tochter, wie es ihr gehe, nichts weiter antworten können, als: gut. Der Vetter war es, der die Alte bei seiner Flucht nach Wien mitgenommen hat, vor zwei Jahren haben er und seine Frau hier einen Laden für Pfeifen, Papier und Spielzeug eröffnet. Manchmal hilft die Alte bei ihnen aus und bekommt dafür einen Erdapfel, ein paar Innereien, ein kleines Stück Maisbrot.
Wie geht es den Mädchen?
Gut.
Als sie selbst noch ein Kind war und die Mutter vielleicht noch gebraucht hätte, ist die täglich mit dem Wagen zu den Bauern gefahren und hat sie bei den Großeltern gelassen. Ein Vater war ja nicht da. Sogar das Laufen hat die Großmutter ihr beigebracht, nicht etwa die Mutter, das hat die Großmutter ihr beim Abschied erzählt, als sie nach Wien ging. Zwischen unseren schiefen Wänden aus Lehm bist du die ersten Schritte gegangen, und nun reicht der Weg bis nach Wien, hatte die Großmutter gesagt. Kaum aber war die Großmutter tot, reiste die Mutter ihrer Tochter nach, angeblich aus Angst vor dem Krieg.
Also dann.
Ja.
Der Moment, in dem die Alte der Tochter hätte davon erzählen können, dass die Polen ihren Mann damals erschlugen, würde nun niemals mehr kommen.
Denkt man nicht, denkt man nicht.
Was denn?
Denkt man nicht, dass die Zeit so schnell vorbeigeht.
So.
Ihre Mutter hatte nie wirklich mit ihr darüber gesprochen, wo der Vater geblieben sein könnte. Vielleicht in Amerika, oder in Frankreich. Der Vater hatte sicher Gründe gehabt, seine Frau so früh zu verlassen.
Na dann.
Mach’s gut, Mädel.
Der Goj ist in Ordnung, aber die Tochter hängt nun zwischen den Welten, hängt da und zappelt und kann nicht anders, als sich mit den Füßen von der eigenen Mutter abstoßen, von ihr, deren Züge im Alter so deutlich vom Geschlecht Davids zeugen, dass sie auf der Straße oft angepöbelt wird, bei der Essenausgabe in den Ausspeisungen übergangen, und von den Nachbarn beschimpft.
Du auch.
Hätte die Mutter sie nicht mit einem Goj verheiratet, wäre sie jetzt nicht für ihr ganzes erwachsenes Leben der Fehler.
12
D as Berühren der Ware mit den Fingern ist strengstens verboten.
Die Zukunft geht nicht mit dem Preis herunter, schon gar nicht in diesen Zeiten, nur mit der Vergangenheit lässt sie sich kaufen. Lots Weib, das zu schwach war, die Heimat blicklos zu verlassen, das sich umdrehte nach dem, was, wie es wohl wusste, dem Untergang geweiht war, verwandelte sich in eine Frau aus Salz. Die Tochter ist klüger. Als die Mutter im ersten Kriegsjahr als Flüchtling zu ihr nach Wien kam, hat sie sie nur wenige Tage bei sich beherbergt und ihr dann so schnell wie möglich eine Wohnung gesucht, die weit genug von der ihren entfernt lag. Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Die christlich erzogenen Mädchen hat sie nicht ein einziges Mal auf Besuch zur Großmutter geschickt. Der Wald liefert selbst das Holz für die Axt, die ihn umhaut. Jeder verzehrt sich für die, die nach ihm kommen, darin besteht nun einmal das Wachsen. Die Alte selbst hat ihrer Tochter den Weg geschenkt, der diese von ihr weggeführt hat, der Weg richtet die Tochter, so wie es momentan aussieht, zugrunde, dafür aber werden die Enkelinnen das Ziel vielleicht erreichen. Manche sind zum Zurückbleiben bestimmt, manche zum Gehen, zum Ankommen die dritten.
So ist das Leben.
1500 Tonnen Mehl aus der
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