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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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dann würde seiner Frau das Gehalt für den ganzen laufenden Monat ausgezahlt. Ein Monatsgehalt reichte derzeit, wenn sie geschickt damit umging, für eine Woche. Was in den übrigen drei Wochen des Monats und in den Wochen des nächsten Monats und was danach überhaupt werden sollte, wusste er nicht. Die Erschütterung bestand aus zwei Schlägen von unten, von welchen der erste heftiger war; beide hatten etwa 2" Dauer mit einem Zwischenraum von 1"; sie erfolgte nach unmittelbarer Empfindung in der Richtung von Nord nach Süd und war mit einem Geräusche wie von einem in den Hausflur einfahrenden Wagen begleitet, welches der Erschütterung um einige Secunden vorangieng und länger dauerte als dieselbe. Uhren und Lampen klirrten.
    Von den Handschuhen hat er die Spitzen abgeschnitten, dann kann er den Füllfederhalter besser halten. Wenn die Tinte durch die Kälte zu fest wird, haucht er auf die Feder.
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    I m November wurde der Krieg für beendet erklärt, im Dezember kehrte der Verlobte ihrer Freundin endlich heim, eines Nachmittags stand er plötzlich vor der Tür, und die Mädchen wussten im ersten Moment gar nicht, dass sie ihn kannten, so sehr hatte er sich verändert. Noch Wochen nach seiner Rückkehr sahen sie, wie es ihn riss, wenn jemand im Park den Tauben Brotkrümel streute. Fragten sie ihn nach dem Krieg, antwortete er nicht, sondern nahm Zigarettenstummel, die er irgendwo aufgelesen hatte, aus der Jackentasche und begann zu rauchen. Sagten sie ihm, dass sie gern ausgehen wollten, war es ihm recht, er blieb dann zu Hause. Erst, seit im Januar die Sperrzeit für die Häuser von 10 auf 8 Uhr vorverlegt worden war, waren sie oft einfach in der Wohnung der Freundin geblieben, um den Sperrsechser an die Hausbesorgerin zu sparen. Sie hatten dort getrunken und geredet, manchmal war sie auch über Nacht dort geblieben und hatte auf einer Matratze im Vorzimmer geschlafen. An den wenigen Abenden, an denen sie ohne die Freundin ausging, ließ sie sich jetzt von niemandem mehr berühren, schon gar nicht küssen.
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    D ie Kleine sitzt in der Nacht auf der Straße und wartet darauf, dass es Mitternacht wird. Im Grunde genommen sitzt sie so schon seit Jahren, manchmal zusammen mit der Mutter, manchmal zusammen mit der Schwester, oft auch allein. Bald nach Kriegsbeginn hatte dieses Warten begonnen, zuerst beim Anstehen um Brot, Fleisch, Fett, später auch um Milch, Zucker, Erdäpfel, Eier und Kohle. Jetzt, nach Kriegsende, sitzt sie immer noch so, in diesem dunklen Leiberwald, der über fünf Jahre hinweg um sie gewachsen ist, der des Nachts seine Glieder immer weiter ausstreckte in Gassen und Straßen hinein, um Ecken, über Stiegen und Plätze der Wiener Stadt, während auch sie in ihm wuchs, ein Meter siebzig inzwischen, hungernd in die Höhe geschossen, seit Jahren Nacht für Nacht wartend inmitten Tausender anderer Menschen, die ums Überleben kämpften durch Warten: vor Markthallen, Ankerbrotfilialen, vor Fleischergeschäften und Mehlausgabestellen, vor den Verschleißstellen der Milchindustrie und auch vor Geschäften, in denen es Karbid gab oder Kerzen, Schuhe, Seife oder Kaffee; überall standen, lagen und saßen all diese über Stunden hinweg schweigend oder raunend da, Wiener Blut, bis das gegen Morgen in Wallung geriet, sich zu stoßen begann, zu treten und zu beschimpfen, vorzudrängeln, sich zu beschweren, zu beharren, zu beißen oder zu kratzen, bis das hinfiel, strauchelte, beiseitegeschoben wurde und selber schob, kreischte, weinte, verhöhnte und in Verzweiflung geriet. Ein Meter und siebzig Zentimeter, indes andere in diesen Nächten schwach oder alt geworden waren, manche auch wahnsinnig oder bewusstlos, einige waren während des Wartens sogar gestorben. Auf dem Klappstuhl sitzt sie, und freut sich darüber, dass das Straßenpflaster so uneben ist, dass sie mit dem Stuhl hin- und herschaukeln kann, sie sitzt in die Decke gewickelt und wartet darauf, dass es Mitternacht wird und die Mutter sie ablöst.
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    W enn seine Frau sich so früh am Abend hinlegt, geht er, nachdem sie eingeschlafen ist, manchmal hinüber und schaut ihr beim Schlafen zu. In drei Häusern blieben gewöhnliche Schweizeruhren, deren Pendel von Süd nach Nord schwingen, stehen. Wenn sie schläft, schweigt sie. Ist schon recht, sagt sie zu ihm, wenn sie wach ist, ist schon recht, wenn er anmerkt, dass der Himmel zum Beispiel bedeckt, blau, wolkig oder ganz und gar klar sei. Ist schon recht, wenn er ankündigt, dass er von nun an

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