Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
Schweiz, hat sie gesagt.
Na, wollen mal schauen.
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Z u Fuß sind sie aus der Alserstraße in die Wohnung zurückgegangen, jetzt warten sie, dass die Zeit, die auf einmal so langsam geworden ist, vergeht. Er sitzt neben ihr in der Küche, vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, schaut zu Boden und schweigt. Erst, als sie das regelmäßige Tropfen hört, blickt sie ihn an und sieht, dass die Tränen ihm über die Wangen bis zur Nasenspitze hin laufen, dort sammeln sie sich und tropfen von da auf die Dielen, ihm direkt vor die Füße. Und dann will sie nach Haus gehen. Und dann sagt er, sie solle bleiben. Wie? Bei ihm, der jetzt allein ist, bleiben, über Nacht? Packt sie bei den Schultern und weint ihr in die Halsbeuge hinein, oder küsst er sie wirklich? Wie? Glück schneidet Scham, Scham wickelt Unglück, Unglück faltet das Glück auseinander. Die Hoffnung stößt die Trauer beiseite und erweist sich als um so viel stärker als jene, als so stark, dass es die Siebzehnjährige selbst wundert, mit solcher Heftigkeit schlagen sich die Frauen in den Schlangen vor den Ankerbrotfilialen um Brot, und die alten sind oft stärker als die jungen, obgleich um so viel näher am Sterben. Hellwach vor Hoffnung sagt sie: Ja, und folgt dem Mann, soll nicht wie sonst zum Übernachten ins Vorzimmer gehen, sondern legt sich, wie er es will, neben ihn, folgsam auf das Bett ihrer Freundin, zum ersten Mal neben den Mann, den sie liebt, seitdem er im Dezember wie einer, den sie nie kannte, aus dem Krieg heimgekehrt ist. Wie? Legt sich an den Platz ihrer besten Freundin, die erst seit dem Morgen um 3 Uhr und 20 Minuten tot ist. Am Abend eines Tages, an dem gestorben wurde, ist längst noch nicht aller Tage Abend. Untröstlich wird sie nun, wie?, ihre Freundin beerben, die gestern noch warm war, wird sich in die Freundin verwandeln und mit ihr Zwiesprache halten im Körper des Liebsten. Hat man je einen so weichen Mund bei einem Mann, der andere totschlagen musste, um nicht selbst erschlagen zu werden, schon einmal gesehen, dazu so blanke, feuchtglänzende Zähne und eine Nase, deren Nüstern sich in der Erregung weiten, hat man schon einmal so lange Wimpern Augen beschatten sehen, so schöne Schatten gesehen, unversengt heimgebracht aus all den Bränden? Sie weiß es, seit er plötzlich unverhofft in der Tür stand: dass dieser der Mann ist, der ihr von jeher bestimmt war, jetzt endlich weiß er es auch, jetzt endlich liegt er, wie sie es sich unzählige Male vorgestellt hat, an ihrer Seite, atmet so nah, dass sie seinen Atem einatmen kann, und wäre es nicht so dunkel, könnte sie sicher sehen, wie er sie jetzt, durch die Nacht hindurch, durch und durch ansieht. Wie?
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I m hiesigen Sensenwerke, nicht auf der Terrasse, sondern unmittelbar am linken Murufer gelegen, wurden aufgeschichtete, 15 cm lange Stahlstücke in der Richtung nach Nordost geworfen. In einer Schmiedewerkstätte im Purbachgraben, etwa 100 m vom rechten Murufer, wo sich das Kalkmassiv des Liechtensteinberges gegen die Judenburgerterrasse senkt, wurden Werkzeuge von der Westwand gegen Osten geschleudert. Zu Aichdorf schlug eine kleine Glocke (Schwingungsebene Ost-West) an. Zu Fohnsdorf wurde ein Mann in der Richtung gegen Ost aus dem Bette geworfen. Mehrere Personen taumelten oder fielen in der Richtung nach Ost, z. B. ein Schüler auf der Straße zwischen Rikersdorf und Allerheiligen, der zugleich das Sausen und den donnerartigen Schlag hörte, ein hiesiger Handelsgehilfe auf einer Leiter, nebenan ein Schüler beim Gang über die Stiege. In Berücksichtigung der Trägheit der Gegenstände stimmt dies gut mit der directen Wahrnehmung einiger in voller Ruhe sitzender Beobachter überein, die den Eindruck hatten, dass der Hauptstoß aus östlicher Richtung gekommen sei.
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A ls die Mutter sie um Mitternacht ablöst, sagt die Kleine ihr nicht, dass sie die große Schwester eben mit einem Mann gesehen hat. Ganz dicht sind die beiden an ihr, die in der Menschenansammlung verborgen geblieben ist, vorübergegangen. Und sie, die Kleine, hat nicht gewagt, nach der Schwester zu rufen, diese ist ganz schweigsam gewesen, hat zu Boden geblickt und mit dem Mann, der an ihrer Seite ging, kein Wort geredet. So also verbringt die Schwester die Nächte, in denen sie ausbleibt. Vor Jahren, als die Kleine das Tagebuch der Schwester einmal zufällig gefunden und begonnen hatte, darin zu lesen, war die Große plötzlich ins Zimmer gekommen, hatte jedoch nicht geschrien
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